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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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und sie nennt eine Mobilfunk-Nummer, unter der sie zu erreichen sei. Ich würde mich außerordentlich über Ihre Bereitschaft freuen, mit mir Verbindung aufzunehmen – so schreibt sie, reichlich blumig und umständlich. Ich spreche mit niemandem über diesen Brief, selbst mit Paula nicht. In Gedanken bereite ich das Gespräch mit Adriana Bonni aber längst vor. Ich vermute, dass es ein virtuoses Gespräch werden wird. Es wird das erste sein, das ich im Kastell führe, in den Stunden vor Mitternacht, im tiefsten Dunkel, wenn der Innenhof des Kastells voll ist vom schweren Harzduft der Pinien, die sich rings um das Kastell befinden.

    Ich unterhalte mich mit Alberto lange über die Filme, die in Mandlica gelaufen sind, und frage ihn, wie ich an den Schlüssel des alten Kinos komme. Auch diesmal weiß er sofort einen Rat und wird sogar selber aktiv, indem er einen Verwaltungsbeamten im Rathaus, mit dem er befreundet
ist, um den Schlüssel bittet. Der Beamte bringt ihn dann am Nachmittag selber vorbei, und wenig später stehen Alberto und ich in dem alten Kino gegenüber dem Dom. Das Foyer ist unverändert, es hat eine schön geschwungene Glasfront, und dahinter ist nichts als das Kassenhäuschen und eine Garderobe, ganz wie im Theater, mit einer durchlaufenden Brüstung, hinter der sich die Ständer mit den Garderobenhaken befinden. Den eigentlichen Kinoraum betritt man durch eine hohe Flügeltür, und der Raum selbst besteht aus einem einfachen, soliden Rechteck, noch immer mit den alten Stuhlreihen bestückt. Auf der rechten Seite geht es zu den Toiletten, und die Leinwand ist oberhalb einer kleinen Holzbühne angebracht, auf der vielleicht sogar einmal Kammertheater gespielt wurde. Die gesamte Anlage hat durch ihre Fünfziger-Jahre-Einrichtung ein wunderbar entrücktes und träumerisches Flair, am nächsten Tag gehen Alberto und ich noch einmal hin und lassen dort französische Chansons aus diesen Jahren laufen. Das Ergebnis ist überraschend: Das alte Kino scheint – wie in einer der märchenhaften Erzählungen von Saint-Exupéry – von diesen Melodien getragen zu werden und ins Weltall zu schweben, wo ein kleiner Sputnik nach dem andern es wie im Kinderwunderland lautlos umkreist.
    – Dieses Kino ist eine große Entdeckung, sage ich.
    – Du meinst für Dein Buch?
    – Ja, das auch. Aber es ist noch viel mehr.
    – Es ist ein gut erhaltenes, seltenes Stück Kinogeschichte.
    – Nein, das meine ich nicht. Es ist ein geradezu idealer Raum für ein Restaurant.
    – Wie bitte?
    – Aber ja, das ist es. In einer Hälfte des Foyers bringt man die Küche unter, die Garderobe in der anderen Hälfte kann bleiben. Ein paar Schulmädchen aus Mandlica stehen an den Abenden dort und nehmen den Gästen die Mäntel ab, und dann gehen die Gäste durch die weit geöffnete, große Flügeltür in einen Raum, in dem acht bis zehn Tische stehen und französische Chansons laufen. Manchmal wird während des Essens auf der großen Leinwand ein Film gezeigt, lautlos oder mit einer Begleitmusik. Was hältst Du davon, Alberto?
    – Die Idee ist genial. Aber wer soll so etwas finanzieren und einrichten?
    – Ich, Alberto. Ich werde das in Angriff nehmen.
    – Das ist nicht Dein Ernst, Beniamino.
    – Wir werden noch häufig darüber sprechen, Alberto, und dann wirst Du sehen!

    Als ich wenig später mit Enrico Bonni bei Lucio zum Mittagessen sitze, habe ich einen ersten Entwurf für das Restaurant dabei. Ich habe ihn selbst gezeichnet, und ich habe mich dabei von einem Architekten des Ortes beraten lassen, den ich bereits vor Wochen in den Kreis meiner Dialogpartner aufgenommen habe. Er heißt Giulio Frattese, ist etwas über dreißig und glaubt, dass die Behörden nichts gegen einen solchen Plan einwenden können. (Im Ernstfall würde er die Bauplanung übernehmen.)

    Ich spreche Enrico Bonni aber nicht sofort auf diesen Plan an, sondern warte, bis er mit seinen eigenen, ehrgeizigen Plänen und all ihren Details herausrückt. Natürlich habe ich nicht erwartet, mit Enrico Bonni allein
zu Mittag zu essen, ich habe an einen größeren Kreis von Planungsstrategen aus dem Ort (mit Matteo Volpi an der Spitze) gerechnet, stattdessen sitze ich wahrhaftig mit Bonni an genau jenem Zweiertisch, an dem ich vor nun schon einiger Zeit einmal mit Paula gesessen habe. Lucio nimmt leise, dezent und überaus charmant unsere Bestellungen entgegen, dann verschwindet er und überlässt die Zeremonien seinen Kellnern.

    Warum sitze ich aber mit Enrico Bonni

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