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Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Titel: Das Kind, das tötet: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Lelic
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Augen.
    »Dad?«
    »Ellie. Tut mir leid. Was hast du gesagt?«
    »Ich habe dich gefragt, warum du ihn dann verteidigst.«
    Auf der Straße gähnte jetzt eine riesige Lücke, und das Auto vor ihnen bog endlich rechts ab. Leo dahinter beschleunigte ebenfalls, und der Passat schlingerte schwerfällig nach links.
    »Verteidigen … Was? Nein. Ich verteidige ihn ja nicht, Ellie – also nicht so, wie du denkst. Ich vertrete ihn, nicht mehr und nicht weniger. Das ist etwas anderes.« Leo holte tief Luft. »Eins der wunderbaren Dinge an diesem Land, an unserem Rechtssystem, ist die Tatsache, dass jeder, egal, was für ein schreckliches Verbrechen ihm vorgeworfen wird, das unanfechtbare Recht auf qualifizierte Rechtsvertretung hat, auf einen Prozess vor Gericht. Habeas Corpus heißt das. Es geht um das Verfahren. Was in diesem Fall bedeutet, dass …« Leo unterbrach sich, als er den Gesichtsausdruck seiner Tochter sah. »Mr. Smithson, stimmt’s?«
    Seine Tochter nickte. »Ich weiß, dass er einen Anwalt kriegt. Ich bin ja nicht blöd. Ich meine bloß, warum kriegt er ausgerechnet dich als Anwalt?«
    »Mich? Mich kriegt er, weil …« Leo zog eine Schulter hoch. »Weil ich gerade da war. Und weil es mein Job ist.«
    »Aber du hättest doch auch nein sagen können. Wenn er wirklich getan hat, was alle sagen, hättest du nein sagen sollen.«
    Leo verzog das Gesicht. »So einfach ist das nicht. Es gibt ja auch noch andere …«
    »Du könntest aber noch. Oder nicht? Ich finde wirklich, du solltest nein sagen.«
    Ellie hatte einen ernsten, erwachsenen Gesichtsausdruck, der schwer auf ihren zerbrechlichen Zügen lastete. Sie sah blass aus, beinahe grau. Genau genommen sah sie aus, als wäre sie den Tränen nahe – auch wenn das in letzter Zeit oft schwer zu sagen war.
    »Sieh mal, Liebes, ich kann mir nicht immer aussuchen, wen ich vertrete. So läuft das nicht. Und außerdem …« Noch hatte er es nicht laut ausgesprochen. »Außerdem will ich diesen Fall. Doch, ich glaube wirklich, ich will ihn. Das verstehst du jetzt vielleicht noch nicht, aber eines Tages wirst du es, das verspreche ich dir. Das ist ein guter Fall, Ellie. Gut für meine Karriere.« Und genau darum ging es: Bei allem unangebrachten Stolz seines Vaters – was hatte Leo denn bisher mit seinem Leben angefangen, außer die Scherben auf der Kneipenmeile zusammenzufegen? Dieser Fall war mehr: die Chance – wie es sein Vater ausgedrückt hätte –, etwas zu bewirken.
    »Auch wenn es schrecklich wird, wie du gesagt hast?«, fragte Ellie.
    Seine Tochter sprach mit ruhiger Stimme, aber ihre starre Miene hatte etwas Unheilvolles.
    »Das hab ich nicht gesagt. Ich habe nicht gesagt schrecklich.«
    »Doch. Du hast gesagt, es wird schrecklich und wir müssen uns alle Sorgen machen.«
    Leo lachte. Er konnte nicht anders.
    »Kannst du jetzt bitte anhalten?«
    »Ellie, bitte. Ich habe nicht gesagt schrecklich, ich habe gesagt unangenehm – dass es unangenehm werden könnte, aber nicht unbedingt muss. Und ich habe gesagt, du brauchst dir keine … «
    »Dad! Halt an. Lass mich raus. Bitte lass mich aussteigen.«
    »Es regnet, Ellie. Wir müssen doch noch eine Straße weiter.«
    »Halt an. Jetzt sofort. Bitte, Dad. Dad!«
    »Schon gut, schon gut!« Leo bremste schärfer als beabsichtigt und fuhr an den Bordstein. »Sieh mal, Ellie …«
    Seine Tochter hatte bereits den Gurt gelöst und die Hand am Türriegel.
    »Warte doch«, sagte Leo. »Ellie! Bekomme ich denn nicht mal einen …«
    Aber seine Tochter war weg.

    Er hätte auf den Aufruhr bei der Polizeiwache eingestellt sein müssen. Ein zwölfjähriger Junge half der Polizei bei ihren Ermittlungen; vorläufig wurde nach niemand anderem gefahndet. Für die Agenturjournalisten, die Fernsehreporter und die Schmierfinken vom Lokalblatt war das so verlockend wie Freibier.
    Leo hatte es fast geschafft, er war fast dort, wo er hinwollte. Er war durchschnittlich groß, nicht dick und nicht dünn und trug nichts Auffälligeres als einen Anzug von der Stange. Hätte er nicht seine klobige, uralte Aktentasche bei sich gehabt, wäre er als Reporter oder Lokalkorrespondent durchgegangen, etwas overdressed vielleicht. Aber die Journalisten lauerten ihm bereits auf, sie hatten die besten Plätze an den Türen belagert. Sie kannten Leo, und Leo kannte sie. Der Gerichtsreporter der Post entdeckte ihn als Erster.
    »Mr. Curtice! Leonard! Hier drüben, Leonard!«
    »Verzeihung«, sagte Leo. »Danke. Entschuldigen Sie.

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