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Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Titel: Das Kind, das tötet: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Lelic
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professionell, und Leo beschloss, es genauso zu halten. Mit Ellie würde er reden, und gegen alles andere würde er sich ein dickes Fell zulegen. Er hatte eine Aufgabe zu erledigen, jetzt und hier.

4
    S ie wurden beobachtet. Das war Teil der Vereinbarung. Das Ermittlungsteam – die Polizei – musste draußen bleiben, aber die Sozialarbeiter und die Eltern des Jungen sahen zu und hörten alles, was gesagt wurde. Was de facto sehr wenig war: Fragen ohne Antworten und Aufforderungen, auf die nichts folgte, ein einseitiges Gespräch also, das im Moment in ein Schweigen gekippt war.
    Leo sah noch einmal hoch zur Überwachungskamera. Er unterdrückte den Impuls, aufzustehen und auf und ab zu gehen, denn genau das hatte die Polizei getan, das hatten Daniels Eltern und schließlich auch der Sozialarbeiter getan, nachdem er mehr als eine Stunde mit dem Jungen allein gewesen war. Leo blieb also sitzen. Als sein Fuß wie von selbst zu wippen begann, stellte er ihn fest auf den Boden. Als stattdessen seine Finger den Rhythmus weiterführten, schloss er sie zu einer Faust. Er war – er würde die Geduld in Person sein. Sie hatten schließlich den ganzen Tag, er und Daniel.
    In Wahrheit hatten sie eine Deadline, die schnell näher rückte. Leo wollte nicht schon wieder auf die Uhr sehen, denn beim letzten Mal hatte ihn der Junge dabei ertappt, und dieser eine Blick, so schätzte Leo, hatte ihn weit mehr gekostet als den Sekundenbruchteil, den er gedauert hatte. Stattdessen riss Leo eine leere Seite aus seinem Notizblock, nahm den Füller zur Hand, den Meg ihm an Felicity Forbes’ letztem Weihnachten geschenkt hatte, und begann zu zeichnen.
    Ein Strichmännchen, am unteren Rand des Blattes. Er überlegte kurz, ob er der Figur mehr Substanz geben sollte, aber angesichts von Daniels zierlichem Körperbau erschienen ihm die Striche ganz passend. Er zeichnete ihm Schuhe, die zu Turnschuhen wurden, als er den Swoosh hinzufügte: blau auf weiß, wie bei Daniel. Auf eins der Ohren setzte er einen Punkt. Den Kopf ließ Leo kahl, nur ganz oben bekam er ein paar Stacheln – so spitz, wie die Haare des Jungen gewesen wären, hätte er nicht seit mittlerweile siebzehn Stunden keinen Zugang mehr zu einer Tube Haargel gehabt. Da er wusste, wie empfindlich seine Tochter war, wenn es um die Sommersprossen auf ihrer hellen Haut ging, widerstand Leo der Versuchung, die Wangen des Strichmännchens zu punkten, und er ignorierte auch die silbrigen Kratzer am Hals und drum herum. Stattdessen zeichnete er einen Mund, einen geraden Strich von links nach rechts, den er mit einer Reihe kleinerer, senkrechter Striche zunähte, je eine Federbreite voneinander entfernt.
    »Gar nicht so schlecht getroffen«, sagte Leo und drehte seine Zeichnung zu Daniel um. Er sah, wie der Blick des Jungen von dem Blatt Papier zu irgendeinem Punkt auf der Tischplatte glitt. »Das bist du: jetzt und hier«, sagte Leo. »Und das …« Er drehte das Blatt wieder um und zeichnete weiter, diesmal, neben den Jungen, einen Mann: dieselben Ohrringe und derselbe zugenähte Mund, aber diesmal fehlten die Haarstacheln in der Mitte. »Das bist du in zwanzig Jahren. Hier«, wiederholte er und deutete mit dem Kopf auf den Vernehmungsraum, »oder in einer etwas kleineren Zelle.« Um seine Aussage zu unterstreichen, zeichnete er um die beiden Figuren einen Kasten, so dass die Haare des Strichmännchens oben an der Decke anstießen, und unterteilte ihn mit Gitterstäben. Dann drehte er das Blatt wieder um und schob es über den Tisch. Er setzte die Kappe auf den Füller und sah den Jungen an. Daniel schenkte dem Bild keine Beachtung. Er drückte das Kinn ans Schlüsselbein, und seine blaugrauen Augen fixierten die Tischplatte.
    »Du musst mit mir reden, Daniel. Weil sonst …«, er tippte mit dem Füller auf die Zeichnung, »… weil sonst das hier passiert.«
    Nichts.
    »Ich möchte, dass du mir vertraust, Daniel. Das würde ich mir wünschen, aber das ist nicht das Entscheidende.« Er hielt inne. »Soll ich dir auch sagen, warum nicht?« Wieder wartete er, aber der Junge gab erwartungsgemäß keine Antwort. »Weil ich sowieso niemandem erzählen dürfte, was wir hier besprechen. Sonst würden sie mich nämlich direkt mit dir da reinstecken.« Er deutete noch einmal auf die herausgerissene Seite aus seinem Block. »Ich bin auf deiner Seite, Daniel. Nicht, weil ich es möchte. Ich bin auf deiner Seite, weil ich muss. «
    Der Tisch zwischen ihnen war regenrohrgrau. Weder marmoriert

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