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Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Titel: Das Kind, das tötet: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Lelic
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Verzeihung.« Er spürte, wie ihm die Fernsehkameras folgten, und blickte mit leicht gesenktem Kopf starr geradeaus.
    »Leonard! Leo! He, Leo!« Jemand fasste ihn am Ellbogen, und er drehte sich um.
    »Tim. Hi. Tut mir leid. Wenn Sie mich entschuldigen würden. Ich muss jetzt wirklich …«
    Leo versuchte, sich vorwärts zu drängen, aber die Menge umschloss ihn. Der Griff an seinem Arm wurde fester.
    »Was ist los, Leo?« Tim Cummins kam mit seinem stoppeligen, fleischigen Gesicht dicht an das von Leo. »Wen haben sie denn da drin?«
    »Ich darf dazu nichts sagen, Tim, das wissen Sie. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen …«
    »Wozu dürfen Sie nichts sagen, Leo? Sie wollen doch nicht etwa leugnen, dass das Ihr Fall ist?«
    »Bitte, Tim, ich muss jetzt wirklich …«
    »Wer ist der Mandant, Leo? Kommt er hier aus der Gegend? Wird er angeklagt?«
    Leo befreite seinen Arm. »Entschuldigen Sie mich jetzt bitte«, sagte er, diesmal mit mehr Nachdruck. Er schob sich nach vorn, und die Journalisten direkt neben ihm gerieten ins Straucheln. Cummins ließ sein Notizbuch fallen. Er hob es nicht auf, sondern ging stattdessen auf die Zehenspitzen.
    »Sie haben doch eine Tochter, oder? Wie finden Sie das, was der kleinen Forbes zugestoßen ist? Wie geht es Ihnen damit? Was sagt Ihre Familie dazu, dass Sie in diesen Fall eingebunden sind?«
    Leo spürte, wie er rot wurde. Ohne nach links und rechts zu sehen, schob er sich vorwärts, löste sich aus der Menge und schlüpfte durch die Tür.
    Drinnen herrschte kaum weniger Aufregung. Normalerweise schob man auf der Polizeiwache von Exeter eine ruhige Kugel: Es war ein Revier in Großstadtgröße für Kleinstadtvergehen, und der tägliche Betrieb ging mit schleppender Effizienz vonstatten. Nicht so heute. Polizisten – einige in Uniform, einige im Anzug – eilten mit Schriftstücken in der Hand von einer Tür zur anderen oder blätterten in Akten, alle mit einem Gesichtsausdruck, als müssten sie längst woanders sein.
    Leos Eintreten blieb dennoch nicht unbemerkt. Der diensthabende Polizist wartete bereits. Der große, stämmige Mann saß mit verschränkten Armen hinter seinem Tresen, die Hände gespreizt auf dem Tisch. Leo nickte ihm zu. Keine Reaktion. Leo strich sich das Jackett glatt, zog den Krawattenknoten fester und trat näher, aber er konnte nicht anders, als dabei noch einmal einen Blick über die Schulter zu werfen.
    Cummins hielt die Hände um die Augen und drückte das Gesicht gegen die Scheibe. Wie geht es Ihnen damit?, hatte er gefragt. Was sagt Ihre Familie dazu? Als ob Leos Familie irgendjemanden etwas anginge außer ihn selbst.
    Leo schritt weiter zum Tresen. Sein Jackett saß nicht richtig, und er zog die Schulter nach hinten, um es zurechtzurücken. Dann sah er noch einmal kurz zum Eingang, bevor er den Mann an der Rezeption ansah. Es stand außer Frage, wer zuerst sprechen musste.
    »Guten Morgen«, sagte Leo. Er räusperte sich. »Ich habe einen Termin. Mit einem Mandanten.«
    Der diensthabende Polizist lehnte sich zurück. »Ihr Name … Sir?« Der Polizist hieß Brian, und er wusste ganz genau, wie Leo hieß.
    »Curtice«, antwortete Leo mit gerunzelter Stirn. »Leonard Curtice.« Er wartete einen Moment, bis sich seine Züge glätteten. »Es tut mir leid, wenn ich zu spät komme, aber vor der Tür war ziemlich viel …«
    »Unterschreiben Sie hier. Und dann da durch.« Der Polizist deutete mit dem Kinn auf eine Flügeltür.
    Darauf hatte er sich also einzustellen, dachte Leo, als er wieder durch den Vorraum ging. Howard hatte ihn gewarnt, genau wie er selbst seine Tochter gewarnt hatte, aber er war trotzdem nicht vorbereitet gewesen. Es war schon unangenehm, das gab er zu. Egal. Ja, seine Tochter war aufgebracht, aber sie war ja auch erst fünfzehn, wie sollte sie das verstehen? Und was den diensthabenden Polizisten, die Pressefritzen oder sonst irgendwen anging, der meinte, er, Leo, habe sich auf die Seite von Felicitys Mörder geschlagen: Dass sie keine Ahnung hatten, nun, das war ihr Problem. Wenigstens wusste Leo jetzt Bescheid. Wenigstens war ihm jetzt klar, welches Ausmaß an Feindlichkeit ihm entgegenschlagen würde.
    Er nahm seine Aktentasche von einer Hand in die andere und rückte ein weiteres Mal seine Krawatte zurecht. Dann ging er durch die Doppeltür. Dahinter erwartete ihn Begleitschutz. Der Mann nickte Leo zu, und das Nicken machte Leo Mut. Er nannte Leo »Sir«, ohne die geringste Spur von Hohn. Er verhielt sich korrekt und

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