Das Kind der Priesterin
Schmied
Den ganzen Tag schon habe ich am Fuße der Klippe gelegen. Ich kann mich nicht bewegen, nur den Kopf kann ich drehen oder mit den Fingern zucken. Ich glaube, mein Rücken ist gebrochen. Es kommt mir vor, als wäre mein Körper schon tot, mein Kopf aber tut weh, und Kummer und Scham sind der ganze Schmerz, den ich ertragen kann. Ich denke an Etaa …
Vielleicht haben die Alten recht, wenn sie sagen, der Tod sei die Rückkehr in den Mutterleib, und daß wir beim Sterben unser Leben zurückgehen, um dann neu geboren zu werden. Zwischen den wachen Stunden träume ich, nicht von meinem ganzen Leben, sondern süße Träume aus der Zeit, als ich Etaa hatte, meine Liebste. Ich sehe unseren ersten gemeinsamen Sommer, als wäre er nie vergangen – warme Tage auf duftenden Hochlandwiesen, wo wir Shenns hüteten. Damals liebten wir uns nicht; sie war noch ein Kind und ich nicht viel mehr. Und aus unterschiedlichen Gründen hatten wir uns von der Welt abgesondert.
Bei mir hieß der Grund Verbitterung, denn ich war neaa, mutterlos. Im vorausgegangenen Winter hatte ich meine Eltern bei der Jagd an ein Rudel Kharks verloren. Die Schwester meiner Mutter nahm mich in ihre Familie auf, wie es Brauch war, aber trotzdem quälten mich die Wunden meines Verlustes, und ich blieb immer ein Außenseiter – das lag zum Teil an meinem eigenen Trotz, zum Teil auch hatten die Verwandten Schuld. Manchmal, wenn ich mit den grasenden Shenns allein war, saß ich da und weinte.
Bis ich eines Tages durch meine Tränen hindurch ein Mädchen erblickte, mit Augen von der Farbe frisch umbrochener Erde und kurzem, lockigem Haar, das so dunkel war wie meines. Sie stand da und sah mir ernst zu, wie ich mir die Augen trockenrieb.
Was willst du? signalisierte ich. Ich blickte sie finster an und hoffte, daß sie weglaufen würde.
Ich habe dich weinen gespürt. Bist du einsam?
Nein. Geh weg. Sie ging nicht. Ich runzelte die Stirn. Woher kommst du überhaupt? Warum spionierst du hinter mir her?
Ich hab nicht spioniert. Ich war mit meinen Shenns auf der anderen Seite des Flusses. Ich bin Etaa. Damit schien sie alles erklärt zu haben.
Und so war es, ich erkannte sie dann. Sie gehörte zu einem anderen Klan, aber alle sprachen über sie. Ihr Namenszeichen ‚Etaa’ bedeutete ‚gesegnet von der Mutter’, und sie besaß die schärfsten Augen im Dorf. Sie konnte einen Vogel auf dem Ast am anderen Ende eines Feldes sehen und einen Faden durch das feinste Nadelöhr fädeln; darüber hinaus aber war sie mit dem zweiten Blick geboren worden – sie spürte in allen Dingen der Natur die Gegenwart der Mutter. Sie konnte die Seele jeder lebendigen Kreatur anrühren und ihre Gefühle erkennen und manchmal sogar vorhersagen, wann es regnen würde. Andere im Dorf hatten auch den zweiten Blick, doch nicht so klar wie sie, und die meisten Leute glaubten, sie würde die nächste Priesterin sein, wenn sie erst das richtige Alter hätte. Doch jetzt war sie noch ein Kind, das die Herde hütete, und ich wollte von ihr in Ruhe gelassen werden. Deine Shenns werden auseinanderlaufen, o Gesegnete.
Alter Schmerz zuckte über ihr sonnengebräuntes Gesicht, und dann rannte sie zurück zum Fluß.
Warte! Bestürzt stand ich auf, aber sie sah mein Zeichen nicht. Ich warf einen Stein, er streifte durch das Gras an ihr vorbei; sie blieb stehen und drehte sich um. Ich winkte sie mit schlechtem Gewissen zurück, weil ich aus eigenem Kummer jemand anders verletzt hatte.
Sie kam wieder. Ihr Gesicht spiegelte so viele verschiedene Gefühle, daß ich sie nicht verstehen konnte.
Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht auch noch unglücklich machen. Ich bin Hywel. Ich setzte mich unter Gebärden hin.
Ihr Lächeln brach so strahlend und plötzlich hervor, wie ihre Enttäuschung und verschwand auch genauso schnell. Wie ein Hund ließ sie sich an meine Seite fallen und strich ihren gestreiften Rock glatt. Ich habe nicht angegeben … ich will nicht … Sie ließ die Schultern hängen. Mir war vorher nie in den Sinn gekommen, daß eine Segnung genausogut auch eine Last bedeuten konnte. Ich wollte nur … Ihre Finger zögerten mitten im Wort. Ich wollte nur wissen, ob dir nichts fehlte. Mit etwas wie Sehnsucht sah sie durch ihre langen Wimpern zu mir auf.
Voller Unbehagen blickte ich weg, über die Weide. Kannst du deine Shenns von hier aus beobachten? Mir erschienen sie nur wie ein grauweißer, beweglicher Fleck, selbst, wenn meine Augen klar gewesen wären, und jetzt
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