Das Kind der Priesterin
und gewöhnte mich langsam an ihre seltsamen Fähigkeiten. Ich hatte nie das Gefühl kennengelernt, von der Mutter oder auch von einem anderen Menschen in meinem Innersten angerührt zu werden, und weil ich nur wenige enge Freunde hatte, kannte ich mich nicht aus bei jemandem, der den zweiten Blick hatte. Bei Etaa zu sein bedeutete mit jemand zusammenzusein, der in fremde Welten sehen konnte. Oft schreckte sie ohne Grund auf oder sagte mir, was wir hinter der nächsten Wegbiegung finden würden. Sogar meine Gefühle kannte sie manchmal, ohne daß sie mein Gesicht sehen konnte. Sie spürte, was die Erde spürt, die Berührung aller Kreaturen auf Ihrer Haut.
Etaas zweiter Blick machte sie einem Waldwesen ähnlich, (denn auch alle Tiere kennen den Willen der Mutter), und allein wie ich, verbrachte sie einen großen Teil ihrer Zeit bei den wilden Kreaturen. Sie versuchte oft, mich zum Zusehen mitzunehmen, aber die Tiere sprangen immer davon, wenn ich kam. Dann wich Etaa zurück und erklärte mir, daß ich mich langsamer bewegen müßte, vorsichtiger auftreten, weil das Brechen von Zweigen die Erde verletzte … ich wußte jedoch nie genau, was ich falsch gemacht hatte.
Im folgenden Sommer wurde ich am Sonnenwendabend zum Manne geweiht. Während des anschließenden Festes, als ich nach dem Eintauchen in die heilige Quelle tropfnaß und zufrieden dasaß, saß Etaa stolz an meiner Seite. Gegen Mitternacht jedoch verließ ich die Feier, um mich mit Hegga hinaus auf die Felder zu begeben, denn dazu konnte man nur eine Frau bitten, und Etaa war noch ein Kind. Das bewies sie auch, indem sie Hegga die Zunge herausstreckte, als wir an ihr vorbeigingen. Ich mußte darüber lächeln, bedeutete es doch, daß auch sie bald eine Frau sein würde.
Jetzt, wo ich ein Mann war, fragte mich Teleth, der Dorfschmied, ob ich sein Lehrling sein wollte. Das Schmieden ist eine Gabe der Sonne an den Feuerklan, und nur ein Mann aus diesem Klan wird Schmied, ganz gleich, in welchen Klan er einheiratet. Teleth war der Vetter meiner Mutter und hatte einen Sohn, der sein Nachfolger geworden wäre, aber dieser Sohn war weitsichtig und taugte nicht zur Schmiedearbeit. Ich war Teleths nächster kurzsichtiger Verwandter; er signalisierte mir jedoch, daß ihm meine Geschicklichkeit und schnelle Auffassungsgabe viel mehr gefielen. Das wiederum freute mich mehr, als ich ihm ausdrücken konnte, denn neben der Ehre hieß es, daß ich Etaa besser beeindrucken konnte.
Wenn immer ich sie durchs Dorf gehen sah oder sie dabei beobachtete, wie sie sich durch Zeichen mit ihren Besuchern unterhielt, versetzte mich die Anmut ihres Verhaltens und ihrer Worte in Erstaunen, obwohl sie doch noch ein Kind war – besonders deshalb, weil mir Worte nicht leicht zufielen und ich meine Gefühle besser durch meine Holz- und Metallarbeiten ausdrücken konnte. Oft aber sah ich sie von der Schmiede aus allein den Pfad betreten, der zur Schlucht der Mutter führte, und ich dachte an die Bürde, die sie immer trug, und daran, wie sie mir meine leichter gemacht hatte. Ich ging dann an die Arbeit zurück und arbeitete doppelt so hart und hoffte, Teleth würde Erbarmen mit mir haben und mich früher gehen lassen.
Doch gewöhnlich ließ mich Teleth in jeder freien Minute arbeiten; er war noch jung, hatte aber ein Lungenleiden und spuckte Blut beim Husten; er fürchtete, nicht mehr lange zu leben. Wenn ich endlich mit Etaa zusammen war, verhedderten sich vor Aufregung meine Hände bei dem Versuch, all die Dinge herauszubringen, die ich sonst mit niemandem teilen konnte. Bei mir konnte Etaa das Kind sein, das sie sonst nirgends sein durfte. Manchmal störte es mich, und ich dachte, sie würde wohl nie erwachsen werden, doch ich ließ alles über mich ergehen, weil ich merkte, daß sie es brauchte, und weil sie manchmal meinen Kopf zu sich herabzog und mich küßte, leicht wie eine Libelle, bevor sie davonlief.
Während der Vier Feste und auch der anderen Feiern waren wir immer zusammen, denn bevor sie nicht Frau war, konnte sie auch nicht unsere Priesterin werden. Wir sahen uns beim Säen und Ernten auf den Feldern, wenn alle miteinander arbeiteten, und im Sommer kam sie bisweilen mit mir Futter suchen und Beeren sammeln. Weil sie mit ihren Augen gleichzeitig Nahes und Fernes sah, konnte sie sich jede Beschäftigung aussuchen, die ihr gefiel – und es gefiel ihr bei mir, wie sie sagte.
Gewöhnlich gerieten wir beim Beerensammeln vor lauter Freiheitslust außer Rand und Band und
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