Das Kind der Rache
den
Augenwinkeln. Die Tür zum Patio stand offen. Gäste. Einer
nach dem anderen verabschiedete sich, die Frau des Hauses
blieb allein zurück. Alex ließ den Rechen sinken und begab
sich zur rückwärtigen Haustür. Er betätigte den schweren
Türklopfer. Die Tür ging auf, die Frau hatte sie geöffnet. Sie
stand da, umgeben von dem Licht, das aus dem Flur auf ihr
Haar und ihre Schultern fiel. Sie maß ihn mit einem fragenden
Blick.
Er streckte die Arme aus und legte ihr die Finger um den
Hals.
Er drückte zu und konnte spüren, wie namenlose Angst jede
Faser ihres Körpers erfüllte. Er konnte spüren, wie das Leben
aus ihrem Leib entwich. Und dann brach ihm der Schweiß
aus...
Er fuhr aus seinem Traum hoch, aber die erdrosselte Frau
war immer noch da.
Er wußte, wer sie war.
Valerie Benson.
Aber wer war er?
Die Erinnerung an den Traum war klar und deutlich. Alex
kramte in seinem Gedächtnis, auf der Suche nach einer
Erklärung.
Der Weg, den er hinaufgegangen war, war nicht gepflastert
gewesen. Staubiger Untergrund. Steine. Es gab keine solche
Straße in La Paloma, trotzdem war ihm das Erlebnis nicht
merkwürdig vorgekommen.
Er hatte keinen Namen mehr.
Die Gringos hatten ihm seinen Namen gestohlen.
Er wußte, wer ›sie‹ waren, und er wußte auch, warum er
Valerie Benson erwürgt hatte.
Seine Eltern waren tot. Er nahm Rache an den Menschen, die
sie ermordet hatten.
Nur... das alles ergab keinen Sinn. Schließlich wußte er, daß
seine Eltern sich im Schlafzimmer am Ende des Flurs
befanden. Sie lebten.
Lebten sie wirklich?
Mehr und mehr verschob sich für Alex die Grenze zwischen
Traum und Wirklichkeit.
Die Erinnerung an das Geschehene war Wirklichkeit, die
Welt, in der er lebte, war Traum.
Vielleicht war ich derjenige, der meine Eltern getötet hat,
dachte er. Wenn es so ist, kann ich mich nicht daran erinnern.
Er warf einen Blick auf den Wecker, der neben seinem Bett
stand. Die Leuchtzeiger standen auf halb zwölf. Um elf, vor
einer halben Stunde, hatte Alex sich schlafen gelegt. Eine halbe
Stunde, dachte er. Nicht genügend Zeit, um aufzuwachen, seine
Eltern zu töten, wieder einzuschlafen und von dem Mord auch
noch zu träumen.
Er rief sich die Ereignisse des Abends Punkt für Punkt ins
Gedächtnis. Es gab eine Lücke. Er erinnerte sich, daß er seinen
Wagen vor Jake's Place geparkt hatte, als Maria Torres zu ihm
gekommen war. Zwischen ihnen und Jake's Place war die
Straße gewesen. Und dann hatte Maria Torres zu flüstern
begonnen.
Sie hatte spanisch gesprochen.
Er erinnerte sich ganz deutlich, daß er, nachdem er Maria
Torres zugehört hatte, zum Parkplatz vor der Pizzeria gegangen
war.
Der Parkplatz.
Er erinnerte sich, daß er seinen Wagen auf der Straßenseite
geparkt hatte, die Jake's Place gegenüberlag, aber er erinnerte
sich auch, daß er die Pizzeria vom Parkplatz aus betreten hatte,
und der lag unmittelbar neben dem Lokal.
Die beiden Erinnerungen widersprachen sich, aber sie waren
gleich stark. Offensichtlich lagen dem Ganzen zwei
verschiedene Ereignisse zugrunde. Ob er Jake's Place zweimal
besucht hatte? Er war noch bei dem Versuch, seine
Erinnerungen mit dem Traum zu verknüpfen, aus dem er
soeben erwacht war, als er die Polizeisirenen hörte. Dann
begann das Telefon zu läuten.
Alex stand auf, zog sich seinen Morgenmantel an und trat
auf den Flur hinaus. Wenige Sekunden später stand er vor der
Schlafzimmertür seiner Eltern. Er konnte hören, daß sie sich
unterhielten. Das Gespräch wurde so leise geführt, daß er es
nur mit Mühe verstehen konnte.
»Sie wissen es nicht«, hörte er seinen Vater sagen. »Sie
haben gesagt, sie bringen sie in die Klinik. Sie glauben, daß sie
tot ist.«
»Wenn du hinfährst, fahre ich mit«, hatte seine Mutter
geantwortet. »Das kannst du mir nicht ausreden. Valerie und
ich waren sehr gute Freundinnen. Ich möchte dabei sein, wenn
sie...«
»Aber ich denke nicht daran, in die Klinik zu fahren, Ellen.
Ich habe heute nacht keinen Dienst, hast du das vergessen? Der
Sergeant hat mich nur angerufen, weil er weiß, daß wir mit
Valerie befreundet waren.«
Alex wich von der verschlossenen Tür zurück und begab
sich wieder in sein Zimmer.
Valerie. Er durchforschte sein Gedächtnis, in der Hoffnung,
daß es eine andere Valerie gab. Aber er wurde nicht fündig.
Und dann verstand er. Sein Vater hatte von Valerie Benson
gesprochen, und sie war tot.
Plötzlich wußte er, warum er Jake's Place in kurzem Abstand
Weitere Kostenlose Bücher