Das Kind der Rache
sie herausfinden, wer am Steuer des Unglückswagens gesessen hatte. Danach würde sie in die
Missionskirche gehen und eine Kerze anzünden. Eine Kerze
für den Heiligen, der in der vergangenen Nacht seinen
Schutzbefohlenen, wie immer er hieß, vernachlässigt hatte.
Ruhe senkte sich über La Paloma. Maria Torres schlief tief
und fest.
Vorsichtig entfernte Dr. Cohen den Verband, der um den
Kopf des Jungen geschlungen war. Er beugte sich vor, um die
klaffende Schädelverletzung zu betrachten.
Der Junge ist tot, dachte er. Er atmet noch, und trotzdem ist
er schon tot.
Viertes Kapitel
Als Ellen Lonsdale die Haustür öffnete und Carol Cochran vor
sich stehen sah, wußte sie, daß ihre schlimme Vorahnung sich
bewahrheitet hatte.
»Ist er tot?« fragte sie.
Carol schüttelte den Kopf. »Nein... Alex war übrigens allein
im Wagen, als der Unfall passierte.«
»Allein?« Ellen verstand das nicht. Wo war Lisa gewesen,
als es passierte?
»Sie haben ihn ins Medical Center gebracht«, sagte Carol.
»Komm, ich bringe dich hin.«
Ellen folgte ihrer Freundin zu deren Wagen. »Ist er schwer
verletzt?« fragte sie.
»Ich weiß es nicht. Ich glaube, zu diesem Zeitpunkt wissen
das nicht einmal die Ärzte.«
Während Carol Cochrans auf die Straße einbog, stellte Ellen
die Frage, die ihr seit der Ankunft ihrer Freundin auf der Seele
lag. »Wie kommt es, daß Lisa nicht bei ihm war, als es
passierte?«
»Keine Ahnung. Ich bin zu dir gefahren, weil ich einen
Anruf von der Polizei bekam. Sie haben mich gebeten, dich
zum Medical Center zu bringen. Lisa ist auch dort. Ihr ist
nichts passiert. Aber Alex... Er ist in der Nähe der alten
Hazienda von der Straße abgekommen. Carolyn hat für die
jungen Leute eine Party gegeben.«
»Er hat mir doch versprochen, daß er auf keine Party geht«,
sagte Ellen. Sie suchte den Blick ihrer Freundin. »Du würdest
es mir doch sagen, wenn er tot ist, oder?«
Carolyn berührte mit einer tröstenden Geste ihren Arm.
»Natürlich würde ich dir das sagen.«
Sie waren in der Klinik angekommen und betraten die
Notaufnahme. Ellen erkannte Lisa Cochran.
Das Mädchen war in Begleitung ihres Vaters. Ein Polizist
sprach mit den beiden. Als Lisa die beiden Frauen eintreten
sah, ging sie auf Ellen zu.
»Es tut mir so leid, Mrs. Lonsdale. Ich wollte wirklich
nicht...«
»Wie ist es passiert?« fragte Ellen.
»Genau weiß ich das auch nicht«, stammelte Lisa. »Alex und
ich hatten uns gestritten. Ich habe mich dann zu Fuß auf den
Heimweg gemacht. Alex ist mir im Wagen gefolgt. Aber er
fuhr zu schnell... Es ist alles meine Schuld.«
Ellen legte dem Mädchen die Hand auf die Wange. »Nein«,
sagte sie ruhig. »Es ist nicht deine Schuld. Du warst ja nicht
einmal im Wagen, als es geschah.«
Sie wandte sich um und erblickte Barbara Fannon, die hinter
sie getreten war. »Wo ist er?« fragte sie. »Wo ist Alex?«
»Sie haben ihn in den OP gebracht. Frank und Benny sind
dabei, ihn zu operieren. Ich habe Ihren Mann in sein Büro
geschickt.«
Marsh saß an seinem Schreibtisch, als Ellen das Büro betrat.
Er hatte ein gefülltes Glas vor sich stehen und starrte ins Leere.
Nachdem ein paar Sekunden verstrichen waren, stand er auf,
kam zu ihr und schloß sie in seine Arme.
»Du hast recht gehabt«, sagte er mit tränenerstickter Stimme.
»Mein Gott, Ellen, du hast recht gehabt.«
»Sag mir die Wahrheit. Ist er tot?«
Die Worte trafen Marsh wie einen Schlag. »Wer hat gesagt,
daß er tot ist?«
»Niemand... Es ist nur so ein Gefühl.«
»Diesmal irrst du dich«, sagte Marsh. »Er lebt.«
»Wenn er lebt, warum habe ich dann das Gefühl, daß er tot
ist?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß er nicht tot ist. Er ist
schwer verletzt, aber er ist nicht tot.«
»Er ist nicht tot«, wiederholte Ellen. »Und er wird nicht
sterben.«
Die Zeit schien stillzustehen. Obwohl Ellen sich vorgenommen hatte, unter keinen Umständen zu weinen, flössen
ihr die Tränen über das Gesicht.
Im Operationsraum entfernte Dr. Mallory einen Knochensplitter aus der Hirnmasse des Verunglückten. Er hob den
Blick, um die Meßdaten von den Monitoren abzulesen.
Nach allen medizinischen Erfahrungen hätte der Junge
aufgrund der schweren Verletzungen tot sein müssen.
Und doch bewiesen die Anzeigen auf den Sichtschirmen,
daß er noch lebte.
Es gab einen Puls.
Die Lungen arbeiteten noch.
Der linke Arm war geschient worden. Die Schnitte im
Gesicht waren genäht worden.
Der erste Teil der Operation war
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