Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Kind der Rache

Das Kind der Rache

Titel: Das Kind der Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Saul
Vom Netzwerk:
Andererseits war die Verbesserung, die sich im
Verlauf der drei Monate im Gesundheitszustand des Jungen
ergeben hatte, ganz erstaunlich. Was heißt erstaunlich, die
erzielten Resultate grenzten an ein Wunder. Der Junge konnte
gehen und sprechen, er konnte sehen und hören. Der Tastsinn
schien wieder normal. Was fehlte, waren die seelischen
Regungen, die Gefühle.
Nicht einmal die Mitteilung, daß er zu seinen Eltern
heimkehren durfte, hatte in Alex ein emotionales Echo
ausgelöst. Er hatte auf Dr. Torres' Eröffnung mit derselben
Gleichgültigkeit reagiert, die er bei allen anderen Dingen an
den Tag legte. Ein Faktor, der es ihm, dem Mediziner, verbot,
von einer vollständigen Genesung zu sprechen.
»Was empfindest du bei dem Gedanken, daß du heute noch
deinen Heimatort La Paloma wiedersehen wirst?« fragte der
Arzt.
Alex versuchte die Beine übereinanderzuschlagen. Er
brauchte zwei Versuche, bis es ihm gelang.
»Ich bin neugierig, ob der Ort sich verändert hat«, sagte der
Junge.
»Verändert?«
»Ob La Paloma sich verändert hat, seit ich das erste Mal
aufwachte.«
»Ich stelle fest, daß sich dein Erinnerungsvermögen seit
Beginn der Behandlung deutlich verbessert hat«, bemerkte Dr.
Torres. Es sollte ein Lob sein.
Aber Alex blieb kühl. »Ich bin nicht sicher, ob ich mich an
La Paloma wirklich erinnere, oder ob ich nur die Dinge
wiederhole, die man mir während der Behandlung gesagt hat.«
»Was du weißt, beruht mit Sicherheit auf Erinnerungen,
nicht auf dem erlernten Wissen der letzten drei Monate«,
widersprach ihm der Arzt. »So schnell kann niemand so viele
Dinge lernen. Außerdem konntest du sprechen, als du aus der
Bewußtlosigkeit erwacht bist. Du hast dich an die Sprache
erinnert, die du als Kind gelernt hast.«
»Es gab viele Worte, die ich nicht verstand«, sagte Alex.
»Und es gibt immer noch Worte, die ich nicht verstehe.« Er
stand auf und machte ein paar unsichere Schritte.
»Langsam, langsam«, ermahnte ihn Dr. Torres. »Du darfst
dich nicht überfordern.« Er drehte die Uhr auf seinem
Schreibtisch so, daß er sie sehen konnte. »Übrigens ist es Zeit,
daß wir unseren Test beginnen.« Er deutete auf den
Projektionsschirm, der die Schmalseite des Büros einnahm,
und drückte auf einige Knöpfe. Die Lichter erloschen. Auf dem
Schirm erschien ein Bild.
»Was ist das?« fragte Dr. Torres.
Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Eine
Amöbe.«
»Richtig. Seit welchem Jahr ist Biologie Teil deines Unterrichts?«
»Seit letztem Jahr. Der Biologielehrer heißt Mr. Landry.«
»Kannst du mir sagen, wie Mr. Landry aussieht?«
Eine Minute verstrich. »Nein.«
»Erinnerst du dich an deine Note in Biologie?«
»Ich hatte Sehr gut. In allen naturwissenschaftlichen Fächern
habe ich Sehr gut.
Dr. Torres drückte auf eine Taste. Ein neues Dia erschien auf
der Projektionsfläche.
»Das ist die Mona Lisa«, sagte Alex ohne Zögern. »Der
Maler hieß Leonardo da Vinci.«
»Gut. Gibt es noch einen anderen Namen für das Bild?«
»La Gioconda.«
Neue Bilder wurden projiziert, Alex gab die richtigen
Antworten. Eine Viertelstunde war vergangen, als Dr. Torres
das Gerät ausschaltete. Er knipste die Raumbeleuchtung an.
»Nun?« fragte er. »Was hältst du selbst von deinen
Fähigkeiten?«
»Das meiste davon habe ich wahrscheinlich hier im Institut
gelernt. Ich habe in den drei Monaten mindestens hundert
Bücher gelesen.«
»Du hast mir vorhin gesagt, daß du in Biologie Sehr gut hattest. Stand das auch in den Büchern?«
»Nein, das hat mir meine Mutter gesagt. Was den eigentlichen Unterricht angeht, so erinnere ich mich nur an ganz
wenige Dinge, zum Beispiel an die Namen der Lehrer. Das
Problem ist, ich sehe das alles nicht bildlich vor mir. Ich weiß
nicht, ob Sie das verstehen können.«
»Aber sicher verstehe ich das«, sagte Dr. Torres. »Du hast
Schwierigkeiten, die Dinge zu visualisieren. Dir fehlt die
Fähigkeit zum eidetischen Bild. Ist es so?«
Alex nickte.
»Hast du auch Schwierigkeiten, Dinge zu visualisieren, die
du erst nach deinem Unfall erlebt oder kennengelernt hast?«
»Nein, das fällt mir leicht. Aber es gibt noch etwas, das ich
Ihnen sagen möchte. Manchmal sehe ich etwas, das mir
bekannt vorkommt, aber ich weiß nicht mehr, bei welcher
Gelegenheit ich das zum ersten Mal sah. Wenn man mir dann
sagt, das war vorgestern, als du durch den Flur im ersten Stock
gegangen bist, erinnere ich mich, aber es ist trotzdem nicht wie
eine richtige

Weitere Kostenlose Bücher