Das Kind der Rache
Wohnung fahre. Nur so, zum Abgewöhnen. Möglicherweise
fühlt sich der Junge dort genauso wohl wie ich.«
Dr. Torres vermied es, auf den Scherz einzugehen, der auf
Dr. Lonsdales Frau gemünzt war. »Wenn ich vorhin gesagt
habe, daß Alex sich nicht an Ihr früheres Haus erinnern kann,
dann bedeutet das nicht, daß er für den Weg dorthin unbedingt
Ihre Hilfe braucht. Ich habe ihm eine großformatige Karte
vorgelegt, auf der nicht nur die Straßen, die nach La Paloma
führen, sondern auch die Häuser und Stadtviertel verzeichnet
sind. Er hat mir dann den nächsten Weg gezeigt, wie man von
hier nach dort kommt.« Er räusperte sich. »Und auch, wie man
Ihr früheres Haus innerhalb des Stadtgebietes von La Paloma
findet. Was nicht funktioniert, ist die bildhafte Erinnerung.
Alex weiß nicht mehr, wie das Haus ausgesehen hat. In
gleicher Weise fehlen ihm die Bilder der meisten Dinge, die
seinen Alltag vor dem Unfall bestimmt haben.«
»Ist das überhaupt möglich?« fragte Ellen.
»Möglich schon, aber unwahrscheinlich.«
»Ich verstehe nicht, wieso Sie Ihre eigene Diagnose als
unwahrscheinlich bezeichnen.«
»Weil meine Diagnose auf den Informationen beruht, die
Alex mir gegeben hat, und weil ich daran zweifle, daß er seine
eigenen Fähigkeiten richtig einschätzt.« Er erklärte ihnen, was
er zuvor seinem Patienten erläutert hatte. Dann nahm er hinter
seinem Schreibtisch Platz. »Und das«, sagte er, »bringt uns auf
das große Problem, mit dem wir es bei Ihrem Sohn in der
nächsten Zeit zu tun haben. Ich spreche von seiner
Persönlichkeit, besser gesagt von den
Persönlichkeitsmängeln.«
Marsh und Ellen tauschten einen verstohlenen Blick. Über
das gleiche Thema hatten sie in den letzten Wochen nur
allzuoft gestritten. Ellen hatte dabei die These vertreten, daß
die merkwürdige Passivität, die Alex bei den Besuchen zeigte,
nur eine vorübergehende Erscheinung war. Dr. Torres, so
glaubte sie, würde durch weitere Heilmaßnahmen die
Persönlichkeit des Jungens zur gewünschten emotionalen Reife
ausformen. Marsh hatte dagegengehalten, daß es eine völlige
Wiederherstellung bei Alex nicht geben werde. Die
Gehirnbereiche, die für Gefühle verantwortlich seien, hätten
bei dem Unfall möglicherweise so tiefe Verletzungen
davongetragen, daß diese Funktionen für immer ausfielen.
»Nein«, hatte Ellen geantwortet. »Alles ist nur eine Frage
der Zeit. Raymond kann dem Jungen helfen. Wir müssen unser
Vertrauen in diesen Arzt setzen, dann wird alles gut.«
Marsh hatte bei solchen Diskussionen natürlich darauf
hingewiesen, daß Dr. Torres ein Chirurg und kein Psychotherapeut war, aber von den Einschränkungen, die mit
dieser Klassifizierung verbunden waren, wollte Ellen nichts
wissen. Der Frühling verging, der Sommer kam. Ellens
Zuversicht in Dr. Torres' Fähigkeiten wuchs von Woche zu
Woche, und entsprechend wuchs das Mißtrauen, das Marsh für
den Mann empfand, den seine Frau ›Raymond‹ nannte. Wenn
sie ihn darauf ansprach, so argumentierte er, es sei die
grenzenlose Arroganz dieses Chirurgen, die so unfreundliche
Gefühle bei ihm auslöste. Tief in seinem Herzen jedoch wußte
er, daß er auf Torres eifersüchtig war. Dieser Mann hatte bei
seinem Sohn die Vaterrolle übernommen. Zugleich war er zum
alleswissenden Ratgeber und zum Vertrauten seiner Frau
aufgerückt. Das Schlimme war, daß er gegen Torres nichts
unternehmen konnte. Im Gegenteil, er mußte ihm noch dankbar
sein, weil dieser seinen Sohn vor dem sicheren Tod gerettet
hatte.
Und jetzt war Dr. Torres dabei, für die schweren Defizite,
die es bei Alex gab, eine wissenschaftliche Erklärung zu
finden. »Wir haben es bei Ihrem Sohn in dem Zustand, wie er
jetzt ist, mit einer flachen Persönlichkeit zu tun.« Er wandte
sich zu dem Vater des Jungen. »Ich hoffe, der Ausdruck ist
Ihnen aus der medizinischen Praxis geläufig.«
»Ich hatte des öfteren Gelegenheit, das Krankheitsbild zu
beobachten, und das nicht nur in meiner medizinischen
Praxis«, sagte Marsh sarkastisch.
»Ich will es Ihnen trotzdem erklären«, sagte Dr. Torres. Sein
Blick wanderte zu Ellen. »Das emotionale Defizit, das im Falle
Ihres Sohnes vorliegt, ist die Ursache für das, was wir eine
labile Persönlichkeit nennen. Solch ein Patient neigt dazu, aus
nichtigem Anlaß zu lachen oder in Tränen auszubrechen. Oder
aber die Persönlichkeit stumpft ab, wie wir es bei Alex
beobachten können. Emotionale Reaktionen finden nicht
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