Das Kind der Rache
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statt. Bei längerer Behandlung kann man eine Verbesserung
des Zustandes, keinesfalls aber eine vollständige Heilung
erzielen. Ich fürchte, das sind die Tatsachen, mit denen wir es
im Falle Ihres Sohnes zu tun haben. Seine Persönlichkeit ist auf
Dauer geschädigt.«
Schweigen erfüllte den Raum. Und dann sagte Dr. Torres in
die Stille hinein: »Ich hatte Sie gewarnt. Ich hatte Ihnen gesagt,
daß die Operation keine vollständige Heilung bewirkt.«
»Ich bin sicher, er wird wieder ganz gesund werden«, sagte
Ellen. Ihr Mann erschauderte, als er die Entschlossenheit in
ihrer Stimme hörte. Sie sah zu Dr. Torres auf. »Sie können dem
Jungen helfen, und Sie können mir helfen. Sagen Sie mir bitte,
ob ich auf den Jungen zugehen soll. Soll ich ihn in den Arm
nehmen, wenn er sich verabschiedet? Soll ich versuchen, die
Gefühle in ihm zu wecken?«
»Natürlich«, sagte Dr. Torres. »Es hätte wohl auch keinen
Zweck, wenn ich Ihnen davon abrate, Sie würden es trotzdem
tun. Aber Sie müssen sich auf Enttäuschungen gefaßt machen.
Ich habe den Jungen den ganzen Sommer über in der Klinik
gehabt, und ich kann Ihnen sagen, die Erfahrungen mit einem
solchen Patienten können sehr frustrierend sein. Sie, die
Mutter, erwarten zum Beispiel, daß er sich über die
Fortschritte, die er macht, genauso freut wie Sie. Er aber zeigt
keine Reaktion. Vielleicht liegt das aber auch nur daran, daß er
noch nicht gelernt hat, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.
Wir müssen die weitere Entwicklung abwarten.«
Ellen warf ihrem Mann einen triumphierenden Blick zu,
dann wandte sie sich wieder zu Dr. Torres. »Wie sind die
kurzfristigen Aussichten?«
»Schwer zu sagen. Alles ist möglich. Das Gehirn Ihres
Sohnes befindet sich noch in der Genesungsphase. Das
Wichtigste ist, daß Sie über die Dinge, die er sagt und tut,
genau Buch führen. Ich möchte, daß Sie mir Ihre Aufzeichnungen aushändigen, wenn Sie Ihren Jungen zur Behandlung zu mir bringen. Ich möchte feststellen, inwieweit er
wieder normal reagiert und welche Abweichungen es gibt. Vor
allem möchte ich von Ihnen wissen, bei welchen Gelegenheiten
er weint oder lacht. Schreiben Sie sich auch auf, bei welcher
Gelegenheit Ihr Sohn gelächelt hat, es ist wichtig.«
»Ich werde dafür sorgen«, sagte Ellen, »daß mein Sohn
wieder unbeschwert lachen kann.«
»Ich hoffe, das gelingt Ihnen«, sagte Dr. Torres. »Und noch
eines. Wenn Sie einmal frustriert sind, weil Ihr Sohn kein
Lächeln zustande bringt, dann sollten Sie sich vor Augen
halten, daß er aus dem gleichen Grunde aller traurigen Gefühle
enthoben ist.«
Marsh fragte sich, ob das als Trost gemeint war. Wenn ja,
dann hatte Dr. Torres in der Wahl seiner Worte gründlich
danebengegriffen.
Alex erwachte aus der Narkose, die ihm vor Beginn der
Untersuchung verabreicht worden war. Vor ihm stand Dr.
Bloch, der Assistent von Dr. Torres. »Wie fühlst du dich?«
fragte der Mann im weißen Kittel. Alex wußte fast gar nichts
von ihm. Ein Beschäftigter des Instituts.
»Gut«, sagte er. »Aber wie kommt es, daß ich vor dem
Erwachen aus der Narkose immer Stimmen höre und Bilder
sehe?«
»Was für Stimmen? Was für Bilder?«
»Es ist schwer zu erklären. Die Bilder sind wie ein flimmernder Film und die Stimmen wie ein Kreischen.«
Dr. Bloch zog die Stöpsel aus der Metallplatte, die das Loch
in Alex' Schädeldecke verschloß. »Hast du Schmerzen?« fragte
er.
»Keine Schmerzen.«
»Kannst du fühlen? Funktioniert dein Geruchssinn?«
»Ich glaube nicht.«
»Ich werde dir sagen, warum du Stimmen hörst und Bilder
siehst«, erklärte Dr. Bloch. »Vor jedem Test bekommst du eine
Narkose. Das geschieht, weil wir während der Versuche
bestimmte Teile deines Gehirns mit elektrischer Spannung
reizen. Der Reiz verursacht keine Schmerzen, wohl aber kann
er Empfindungen im Geruchs- und Geschmackszentrum
auslösen, auch unangenehme Empfindungen. Wärst du ohne
Narkose, würdest du zum Beispiel glauben, du hättest dir die
Hand verbrannt. Daß du vor dem Aufwachen Stimmen hörst
und Bilder siehst, ist eine logische Folge.«
Alex stand von der Untersuchungsliege auf und zog sich sein
T-Shirt an. »Soll ich Dr. Torres von den Stimmen und Bildern
erzählen?« fragte er.
»Wie du willst«, sagte Dr. Bloch. »Ich mache sowieso eine
entsprechende Notiz in deiner Krankengeschichte. Du brauchst
dir übrigens wegen dieser Empfindungen keine Sorgen zu
machen.«
»Natürlich nicht«, sagte
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