Das Kind der Rache
lang ist«, entgegnete
Marsh. »Du brauchst nicht alles zu tun, was er sich ausdenkt.«
Alex öffnete die Wagentür und stieg aus, nachdem er seinen
Stock auf den Rücksitz gelegt hatte. Sein Vater sah ihn mit
einem mißbilligenden Blick an. »Hat Dr. Torres dir gesagt, du
sollst ohne Stock gehen?«
»Nein. Ich dachte nur, es ist besser, wenn ich auf den Stock
verzichte.«
Dr. Lonsdales finstere Miene verwandelte sich in ein
Lächeln. »Vielleicht hast du recht.« Und dann: »Bist du sicher,
daß du schon wieder am Schulunterricht teilnehmen willst?«
Alex nickte. »Ja.«
»Wenn du willst, kannst du auch zu Hause lernen. Ich könnte
dir einen Privatlehrer aus Stanford besorgen.«
»Nein«, sagte Alex. »Ich möchte lieber am normalen
Unterricht teilnehmen. Ich glaube, daß sich auf diese Weise
manche Erinnerungslücken schließen.«
»Dein Gedächtnis ist schon wesentlich besser geworden«,
erwiderte Marsh. »Ich möchte nur nicht, daß du dich
überanstrengst. Wie soll ich es dir sagen... Es ist nicht
notwendig, daß du dich an alles erinnerst, was vor dem Unfall
gewesen ist.«
»Das sehe ich anders«, entgegnete Alex. »Ich bin erst
geheilt, wenn ich mich wirklich an alles erinnern kann.« Er
schlug die Wagentür zu und ging auf das Haus der Familie
Cochran zu. Nachdem er einige Schritte zurückgelegt hatte,
blieb er stehen, um seinem Vater zuzuwinken. Marsh winkte
zurück, dann scherte er aus der Parklücke aus. Alex setzte
seinen Weg zur Eingangstür fort. Er dachte über den kurzen
Wortwechsel nach, den er mit seinem Vater geführt hatte. Ob
dieser wohl gemerkt hatte, daß er ihn belogen hatte?
Seit Alex aus Dr. Torres' Institut nach Hause zurückgekehrt
war, hatte er sich ans Lügen gewöhnt.
Er war an der Tür angekommen, drückte auf die Klingel und
wartete. Als sich nichts rührte, klingelte er ein zweites Mal. Er
erinnerte sich nicht mehr daran, daß er früher bei dieser
Familie ein- und ausgegangen war, ohne zu klingeln und ohne
anzuklopfen.
Das Haus, vor dem er stand, war ihm vollkommen fremd,
ebenso wie das eigene Heim, von dem ihm seine Eltern
erzählten, daß er von klein auf dort gelebt hatte. Alex hatte es
sorgsam vermieden, seine Eltern auf diese Gedächtnislücken
hinzuweisen. Bei dem ersten Besuch im Hause seiner Freundin
Lisa hatte er seine ganze Anstrengung darauf verwandt, sich
die Aufteilung der Räume genau einzuprägen. Und dann hatte
er den Eltern des Mädchens vorgeflunkert, daß er sich an ein
Bild erinnerte, das im ersten Stock hing. Es handelte sich um
ein Foto, das ihn und Lisa im Alter von fünf oder sechs Jahren
zeigte.
Alle zeigten sich sehr erfreut, daß er sich an dieses Bild
›erinnert‹ hatte, und nach einer Weile war Alex selbst nicht
mehr ganz sicher, ob die Information nicht tatsächlich in
seinem Gedächtnis gespeichert gewesen war. Jedenfalls fühlte
er sich ermutigt, neue Experimente mit seinem
Erinnerungsvermögen anzustellen.
Er machte gute Fortschritte. Vor einer Woche zum Beispiel
hatte er im Schreibtisch seines Vaters nach einem
Kugelschreiber gesucht. Dabei war ihm die Reparaturrechnung
einer Autowerkstatt in die Hände gekommen. Als er am Abend
jenes Tages - sein Vater brachte ihn zu Lisa - an der
Autowerkstatt vorbeifuhr, war der Funken der Erinnerung
übergesprungen.
»Ist der Wagen im vergangenen Jahr nicht schon einmal in
dieser Werkstatt repariert worden?« fragte er.
»So ist es«, bestätigte ihm sein Vater. Dann: »Weißt du
noch, was für eine Reparatur es war?«
»Getriebe?«
»Richtig. Dein Gehirn funktioniert wieder, siehst du?«
»Ein bißchen«, sagte Alex. »Nur ein kleines bißchen.«
Die Haustür öffnete sich. Lisa stand vor ihm. Sie strahlte ihn
an. Er erwiderte ihr Lächeln. »Alles klar?«
»Nichts ist klar«, lachte sie. »Du glaubst doch nicht etwa,
daß ich mich auf die Schule freue.« Sie wiegte sich in den
Hüften. »Na, wie sehe ich aus?«
Alex betrachtete das Mädchen. Sie trug Jeans und eine weiße
Bluse. »Warst du immer so angezogen, wenn du zur Schule
gingst?«
»Fast alle in der Schule sind so angezogen.« Lisa rief ihren
Eltern, die irgendwo im Haus sein mußten, einen
Abschiedsgruß zu, dann machte sie sich in Begleitung ihres
Freundes auf den Weg zur La Paloma High School.
Während sie durch die Straßen der Ortschaft gingen, stellte
er ihr eine große Anzahl Fragen. Er erkundigte sich, wer in
diesem oder jenem Haus wohnte, wem die Läden und
Geschäfte gehörten, an denen sie vorbeikamen, wie die
Menschen hießen, denen
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