Das Kind der Rache
je im Leben eine offene
Feuerstelle gesehen zu haben. Die einzige, die er kannte,
befand sich in der Lobby des Gehirnforschungsinstituts.
Er machte die Wagentür auf und stieg aus. Mit langsamen
Schritten ging er auf die Freitreppe zu, die zum Eingangsportal
hinaufführte. Als er den Fuß auf die erste Stufe setzen wollte,
spürte er die Hand seines Vaters an seinem Ellbogen.
»Ich kann allein hinaufgehen«, sagte Alex.
»Aber Dr. Torres hat gesagt...«
»Ich weiß, was Dr. Torres gesagt hat. Ich schaffe die Treppe
allein.«
Sein Vater mußte ihn stützen, als er ins Schwanken kam.
»Danke«, sagte Alex. Dann: »Ich möchte es gleich noch mal
versuchen.«
»Das hat später noch Zeit«, sagte seine Mutter. »Möchtest du
jetzt nicht lieber ins Haus gehen?«
»Nein«, sagte Alex. »Ich will erst noch die Treppe ausprobieren. Dr. Torres sagt, es ist sehr wichtig, daß ich mich
ohne fremde Hilfe bewegen kann.«
»Gehen wir erst einmal ins Haus«, entgegnete der Vater.
»Du ruhst dich aus, nachher probierst du die Treppe.«
»Nein, jetzt.«
Es dauerte eine Viertelstunde, bis Alex gelernt hatte, ohne
Schwanken und Stolpern die Treppe hinaufzugehen. Ellen
freute sich über die Geduld, die er bewies. Sie wollte ihn in den
Arm nehmen und küssen, aber er wies sie zurück.
»Gehen wir jetzt hinein«, sagte er kühl.
Sie folgte ihm und war froh, daß er ihre Tränen nicht sehen
konnte.
Alex hatte sein Zimmer betreten. Der Raum kam ihm bekannt
vor, nicht aber die Möbel. Er trat an den Schreibtisch und nahm
das Schulheft hoch.
Geometrie.
Die Erinnerung kam wie ein Blitz. Die Geometrie-Lehrerin
hieß Mrs. Hendricks.
Wie sah Mrs. Hendricks aus?
Keine Ahnung.
Er öffnete das Heft und löste eine Aufgabe, die dort verzeichnet war. Fünf Minuten verstrichen. Immer noch kein Bild,
wie Mrs. Hendricks aussah.
Er las in den Schulbüchern. Schließlich fiel ihm das Jahrbuch seiner Schule in die Hände. Er öffnete es, um die Fotos
der Schüler und der Lehrer zu studieren.
Eine Stunde später wußte er, wie Mrs. Hendricks aussah. Er
wußte auch, wie seine Klassenkameraden aussahen. Er wußte
jetzt, wer die Menschen waren, die ihn im Krankenhaus
besucht hatten. Er wußte auch, wie sie hießen.
Und doch wußte er nichts über diese Menschen.
Sein Gedächtnis war leer wie ein unbeschriebenes Blatt.
Er fuhr aus seinen Gedanken hoch. Seine Mutter war ins
Zimmer getreten.
»Brauchst du was, Alex?«
»Nein.« Er versuchte, sich an den Garten zu erinnern. »Es ist
merkwürdig«, sagte er leise. »Der wilde Wein ist anders, als er
früher war.«
»Willst du damit sagen, dein Gedächtnis funktioniert
wieder?«
»Eben nicht. Ich kann mich weder an das Haus noch an mein
Zimmer erinnern.«
Ellen führte ihren Jungen zum Bett und setzte sich neben
ihn. Sie legte ihm die Arme um den Hals. »Du mußt deswegen
nicht traurig sein«, sagte sie. »Natürlich haben dein Vater und
ich gehofft, du würdest dein Gedächtnis wiederfinden, aber
Raymond hatte uns ja vor übertriebenen Hoffnungen gewarnt.«
»Ich werde alles neu lernen müssen«, hörte sie ihn sagen.
»Und ich werde dir dabei helfen«, antwortete sie. »Du wirst
sehen, irgendwann wird die Erinnerung zurückkehren.«
Nie, dachte Alex. Nie. Er würde heucheln müssen. Er würde
die Menschen anlügen. Ihnen sagen, daß sein Gedächtnis
wieder funktionierte.
In den drei Monaten, die er in der Obhut von Dr. Torres
verbrachte, hatte Alex eines gelernt. Die Menschen freuten
sich, wenn er ihnen etwas vorlog.
Blieb die Frage, was Freude eigentlich für ein Gefühl war.
Alex war aufgestanden. Er folgte seiner Mutter ins
Wohnzimmer. Ob er sich je wieder freuen konnte?
Neuntes Kapitel
Labor Day, der Tag der Arbeit, wurde nach amerikanischer
Tradition am ersten Montag im September, nicht am 1. Mai
gefeiert. Es war typisch für das Wetter in Kalifornien, daß trotz
der vorgerückten Jahreszeit noch nichts von der
bevorstehenden Abkühlung der Wintermonate zu spüren war.
Schon um sieben Uhr früh hatte die Sonne den Nebel
weggebrannt, der über den Hügeln von La Paloma lag. Als Dr.
Lonsdale seinen Wagen vor dem Haus der Nachbarfamilie
Cochran zum Halten brachte, war die Hitze deutlich zu spüren.
Er wandte sich zu Alex, der auf dem Beifahrersitz saß. »Soll
ich dich und Lisa nicht doch besser zur Schule fahren?«
»Ich möchte zu Fuß gehen«, gab Alex zur Antwort. »Dr.
Torres sagt, ich soll so viel wie möglich gehen.«
»Dr. Torres sagt viel, wenn der Tag
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