Das Kind der Rache
zu.
»Du brauchst keine Angst zu haben.«
Er umrundete ihren Schreibtisch und klopfte an die Verbindungstür, so, wie er ungezählte Male an Dr. Torres' Tür
geklopft hatte.
»Herein«, ließ sich die Stimme eines Mannes vernehmen.
Alex trat ein. Er hatte sich die Gesichter aus dem Jahrbuch der
High School gut gemerkt, und so wußte er, daß es sich bei dem
Mann, der ihm entgegenkam, um den Dekan handeln mußte. Er
kannte seinen Namen, er kannte sein Gesicht - und doch
erinnerte er sich nicht, ihm je begegnet zu sein. Der Funken,
den er beim Betreten des Verwaltungsgebäudes gespürt hatte,
schien erloschen.
Dan Eisenberg begrüßte ihn mit Handschlag. »Ich freue
mich, dich wiederzusehen, Alex.«
»Ich freue mich ebenfalls, Sir«, antwortete Alex. Er nahm in
dem Sessel Platz, den der Dekan ihm anbot.
»Kommen wir sofort zur Sache, Alex. Ich habe dich gleich
am ersten Schultag zu mir rufen lassen, weil ich mit dir
sprechen möchte. Es gibt da ein kleines Problem.«
Alex' Gesicht verriet nicht, was hinter seiner Stirn vorging.
»Welches Problem?«
»Nur eine Kleinigkeit, wirklich«, sagte der Dekan. »Ich habe
vergangene Woche mit Herrn Dr. Torres telefoniert. Wir sind
übereingekommen, daß du vor dem eigentlichen Beginn des
Unterrichts ein paar Testbögen ausfüllen solltest.« Er suchte
nach einer Reaktion in den Augen des Jungen, aber Alex blieb
unbewegt. »Kannst du dir vorstellen, um was für Testbögen es
sich handelt?«
»Sie wollen sehen, ob ich mich an den Stoff des letzten
Schuljahrs erinnern kann«, sagte Alex.
»Woher weißt du das? Hat Dr. Torres mit dir über die Sache
gesprochen?«
»Nein, ich habe nur aus dem, was Sie vorhin sagten, die
logischen Schlüsse gezogen. Ich meine, Sie können mich nicht
in meine bisherige Klasse stecken, wenn Sie nicht sicher sind,
daß ich noch über die notwendigen Kenntnisse verfüge.«
»Genau.« Dan Eisenberg ergriff einen Stapel Formulare, der
auf seinem Schreibtisch lag. Er zeigte Alex die Testbögen.
»Erinnerst du dich, diese Bögen schon einmal ausgefüllt zu
haben?« Alex schüttelte den Kopf. »Es sind die Tests, die du
und deine Klassenkameraden zu Beginn des letzten Schuljahrs
gemacht haben. Die anderen sind dir inzwischen etwas voraus,
weil du...«
»Weil ich den Unfall hatte«, vollendete Alex den Satz. »Es
macht mir nichts aus, über den Unfall zu sprechen. Allerdings
erinnere ich mich an keine Einzelheiten. Ich weiß nur noch,
daß ich den Hacienda Drive hinunterfuhr.«
Der Dekan nickte. »Dr. Torres hat mir bereits gesagt, daß du
noch große Erinnerungslücken hast...«
»Ich denke, daß mir das im Unterricht keine Schwierigkeiten
bereiten wird. Ich habe die Sommerferien benutzt, um zu
lernen. Mein Vater möchte, daß ich den Förderkurs besuche,
damit ich eine Klasse überspringen kann.«
Von einer Teilnahme am Förderkurs konnte natürlich keine
Rede sein, dachte Dan Eisenberg, noch viel weniger vom
Überspringen einer Klasse. Nach dem, was er von Dr. Torres
erfahren hatte, würde man Alex wohl ein oder zwei Jahre
zurückstufen müssen. »Es kommt alles auf die Tests an«, sagte
er mit gespieltem Optimismus. »Wenn du willst, kannst du
gleich damit anfangen.«
»Einverstanden.«
Zehn Minuten später nahm Alex in einem leeren Klassenzimmer Platz. Die Sekretärin des Dekans hatte ihm die
Testbögen und das Zeitlimit erklärt. »Du brauchst nicht alle
Testbögen auszufüllen«, sagte sie. »Es genügt, wenn du einen
Teil der Fragen beantwortest. Kann's losgehen?«
Er bejahte. Dann begann er die Arbeit.
Als Dan Eisenberg seine Sekretärin eintreten sah, schob er die
Unterschriftsmappe zur Seite. Er warf einen Blick auf seine
Uhr, die ihm zeigte, daß seit dem Gespräch mit Alex eineinhalb
Stunden vergangen waren. »Was ist los, Marge? Schafft er es
nicht, die Bögen auszufüllen?«
»Er hat es gar nicht erst versucht«, sagte sie. »Soweit ich
gesehen habe, hat er nur ganz zerstreut ein paar Kreuze an den
rechten Rand gekritzelt.«
»Sie haben ihm hoffentlich gesagt, daß dieser Test für seine
Einstufung von großer Bedeutung ist?«
»Das habe ich, und ich habe ihm auch gesagt, wie er die
Bögen auszufüllen hat.«
»Und?«
»Er sagt, er ist fertig.«
»Wie viele Bögen hat er ausgefüllt?«
Marge zögerte. Dann sagte sie: »Alle.«
Der Dekan runzelte die Stirn. »Alle? Aber das ist doch
unmöglich. Die Zeitvorgabe für diesen Test beträgt acht
Stunden.«
»Ich weiß. Er hat wahrscheinlich wahllos
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