Das Kind der Rache
sie an jenem Morgen begegneten.
Geduldig gab ihm Lisa die Auskünfte, die er haben wollte. Und
dann testete sie sein Gedächtnis. »Wer wohnt in dem blauen
Haus an der Carmel Street?«
»Familie Jameson.«
»Und in dem alten Haus am Ende der Monterey Street?«
»Miß Thorpe«, antwortete Alex. Er fügte hinzu: »Die Hexe.«
Lisa betrachtete ihn aus den Augenwinkeln. Sie war nicht
sicher, ob die Bemerkung ernsthaft gemeint war. Aber dann
erinnerte sie sich, daß Alex, seit er den Unfall gehabt hatte,
keinen einzigen Scherz mehr gemacht hatte. »Sie ist keine
Hexe«, sagte sie. »Das haben wir nur geglaubt, als wir noch
Kinder waren.«
Alex blieb stehen. »Wenn sie keine Hexe ist, warum behaupten die Leute dann, sie wäre eine?«
Lisa war unschlüssig, was sie ihm antworten sollte. Er schien
seine ganze Kindheit vergessen zu haben, und irgendwie
verstand er auch nicht, daß Kinder gern Dinge wiederholten,
die sie nur vom Hörensagen wußten. Wie oft waren sie mit
angenehmem Gruseln über Miß Thorpe hergezogen. Aber Alex
schien das Vorstellungsvermögen für solche Dinge verloren zu
haben. Er fragte Lisa nach den Namen von Menschen und
Dingen, aber die Informationen, die sie ihm gab, schienen ihm
nichts zu bedeuten. Sein Verhalten hatte allmählich zu einer
Entfremdung zwischen ihnen geführt. Lisa hatte zu niemandem
darüber gesprochen, aber insgeheim war sie froh, daß die Ferien jetzt zu Ende waren. Sie konnte sich jetzt mit Schularbeiten herausreden, wenn Alex zu ihr kam.
»Ich weiß es nicht«, beantwortete sie seine Frage. »Als
Kinder haben wir Miß Thorpe für eine Hexe gehalten, das ist
alles. Und nun komm, wir müssen uns beeilen.«
Alex hatte ein unsicheres Gefühl, als er das Freigelände vor der
La Paloma High School überquerte. Es schien ihm, als sei er
vor Jahren schon einmal hier gewesen, aber die Lage der
Gebäude hatte sich verändert.
Die Schule bestand aus vier Gebäudeteilen, die um einen
rechteckigen Platz gruppiert waren. In der Mitte des Platzes
war ein Springbrunnen. Einiges, was er sah, kam ihm bekannt
vor.
Aber die Erinnerungen waren unvollständig.
Immerhin, es gab Dinge, die in seinem Gedächtnis gespeichert waren.
Er warf einen Blick auf den Stundenplan in seiner Hand. Die
Schulglocke schrillte. Alex ging auf den Gebäudetrakt zu, in
dem er die nächsten Wochen und Monate verbringen würde.
Obwohl er sich an die Aufteilung der Räume nicht erinnerte,
hatte er keine Mühe, sein Klassenzimmer zu finden. Er
überquerte die Schwelle und wollte sich neben Lisa setzen, als
der Lehrer - es war Mr. Hamlin, und Alex erkannte ihn, weil er
genauso aussah wie auf dem Foto, das er im Jahrbuch der High
School entdeckt hatte - ihn zu sich rief. Er müsse sich, so
bedeutete er ihm, erst beim Dekan der Schule anmelden.
Schweigend verließ Alex das Klassenzimmer, um sich zum
Verwaltungsgebäude zu begeben.
Sobald er das Portal passiert hatte, verfestigte sich in ihm das
Gefühl, daß er sich auf bekanntem Terrain befand. Ganz recht,
dort waren die verglasten Büros, die er kannte.
Er öffnete eine der Türen und war erstaunt, eine Krankenschwester vorzufinden.
»Was kann ich für dich tun?« fragte sie.
»Entschuldigen Sie, ich habe mich vertan. Ich möchte zum
Dekan, zu Mr. Eisenberg.«
Die Krankenschwester lächelte. »Mr. Eisenbergs Büro ist auf
dem anderen Flur.« Sie deutete nach draußen. »Erste Tür
rechts.«
»Danke«, sagte Alex. Er verließ den Raum und ging in die
Richtung, die sie ihm gewiesen hatte.
Was war passiert? Er war verunsichert. Als er das
Verwaltungsgebäude betrat, war ihm alles ganz vertraut vorgekommen. Er war sicher gewesen, daß er hinter jener Tür den
Dekan vorfinden würde. Statt dessen war er in das Büro der
Krankenschwester geraten.
Er konnte sich auf seine Erinnerungen nicht verlassen.
Und trotzdem glaubte er zu wissen, daß ihn sein Gedächtnis
in diesem besonderen Fall nicht getrogen hatte.
»Wie gefällt es Ihnen in dem neuen Büro?« begrüßte er die
Sekretärin, als er das Vorzimmer des Dekans betrat.
Ihr Lächeln gefror. »Was für ein neues Büro?« fragte sie.
»Was meinst du damit, Alex?«
Er schluckte. »Hatte Mr. Eisenberg sein Büro nicht früher in
dem Raum, wo jetzt die Krankenschwester ist?«
Ihre Antwort kam zögernd. »Mr. Eisenbergs Büro ist hier,
seit ich in der Verwaltung der Schule arbeite.« Das Lächeln
fand in ihre Mundwinkel zurück. »Wenn du zum Dekan
möchtest, du kannst gleich hineingehen.« Sie nickte ihm
Weitere Kostenlose Bücher