Das Kind der Rache
Chinesen
nach San Francisco brachten. Heute leben in San Francisco
mehr Chinesen als in irgendeiner Stadt außerhalb Chinas.«
Lisa sah ihn an und dachte nach. »Das hast du aus einem
Reiseführer, stimmt's?«
Alex bejahte. »Ich weiß, daß ich euch auf die Nerven gehe,
wenn ich euch ständig Fragen stelle. Deshalb habe ich mir
gestern einen Reiseführer besorgt und den Inhalt auswendig
gelernt.«
Bob Carey kniff die Augen zusammen. »Du hast den ganzen
Reiseführer auswendig gelernt?« Alex nickte.
»Das ist doch völlig sinnlos«, sagte Bob. »Was willst du mit
dem erlernten Wissen anfangen? Wir wollen hier doch nur auf
den Putz hauen.«
»Ich finde es lobenswert, daß er vor Antritt der Fahrt den
Reiseführer studiert hat«, warf Kate ein. Sie wandte sich zu
Alex und lächelte.
Sie gingen weiter. Nach einer Weile sagte Lisa: »Wir
könnten zur Missionsstation gehen. Wenn ich nur wüßte, wie
man hinkommt.«
»Zuerst zum alten Marktplatz, dann die Dolores Street
entlang«, sagte Alex.
»Und woher weißt du das?« fragte Bob.
»Stadtplan«, sagte Alex. »Ich habe den Stadtplan auswendig
gelernt.«
Sie fanden die kleine Missionsstation genau an der Stelle, die
Alex beschrieben hatte. Es war die Keimzelle der großen Stadt,
in der sie sich befanden. Tatsächlich war es diese winzige
Kirche, die der Metropole den Namen gegeben hatte: San
Francisco de Asis. Inzwischen war das unscheinbare Gebäude
in ›Mission Dolores‹ umbenannt worden.
»Sollen wir reingehen?« fragte Lisa.
»Wozu denn?« stöhnte Bob. »Wir haben doch zu Hause
schon genug Missionsstationen besichtigt. Kein Schulausflug
vergeht, ohne daß sie uns in so ein altes Gemäuer schleppen!«
»Und was ist mit Alex?« fragte Lisa. »Ich wette, er kann sich
nicht erinnern, so ein Gebäude je besucht zu haben. Und ganz
sicher ist es das erste Mal, daß er diese Mission besichtigt.
Gehen wir rein.«
Sie folgten Lisa in die winzige Kirche. Danach gingen sie
durch den Garten, der zur Mission gehörte.
Herbstlich gefärbte Blätter lagen auf den Wegen. In einiger
Entfernung war der alte Friedhof zu erkennen. Alles schien
noch so, wie es die Spanier vor 200 Jahren zurückgelassen
hatten. »Dort hinüber«, sagte Alex.
Es war das erste Mal, daß Lisa so etwas wie Aufregung in
seiner Stimme spürte. »Was ist mit dir, Alex?« fragte sie.
»Hast du Erinnerungen, über die du sprechen willst?«
»Ich weiß nicht«, flüsterte er. Sein Blick war auf die verwitterten Grabsteine gerichtet.
»Der Friedhof«, sagte Lisa. »Erinnerst du dich an diesen
Friedhof?«
Lisas Stimme klang, als wäre sie Meilen entfernt. Mit
unsicherem Schritt näherte sich Alex den Gräbern.
»Was hat er?« fragte Kate. »Er benimmt sich so merkwürdig.«
»Er hat Erinnerungen«, sagte Lisa.
»Warum gehen wir nicht mit ihm?« fragte Bob.
Lisa schüttelte den Kopf. »Ich gehe mit ihm, die anderen
bleiben hier.«
Alex hatte den Friedhof bereits betreten, als er Lisas Schritte
hinter sich hörte.
Die Bilder, die aus einer rätselhaften Vergangenheit zu ihm
drangen, waren deutlicher geworden. Das Herz schlug ihm bis
zum Halse. Sein Blick blieb auf einem kleinen Grabstein in der
Nähe der Umfriedungsmauer haften.
Vor seinem geistigen Auge erschienen Menschen.
Schwarzgekleidete Frauen.
Nonnen.
Die Nonnen bildeten einen Kreis. In der Mitte des Kreises
stand ein Junge. Der Junge war er selbst.
Aber der Junge sah anders aus als Alex.
Das Haar war dunkler, die Haut olivfarben.
Der Junge weinte.
Langsam ging Alex auf den Grabstein zu. Die Nonnen und
der Junge schienen ihm zu folgen. Er beugte sich vor, um die
eingemeißelte Inschrift zu entziffern.
Fernando Melendez y Ruiz
1802-1850
Ein Wort zuckte durch sein Bewußtsein: » To! « Der Schmerz,
der dem Wort folgte, war wie ein Blitz, der sich in seinem
Gehirn entlud.
Die Nonnen begannen zu flüstern.
»Esta muerto.« Er ist tot.
Plötzlich war die Stimme eines Mannes zu hören. Laute, die
aus den Tiefen der Erinnerung in Alex' Bewußtsein
hochstiegen. »Venganza... venganza!«
Tränen schössen ihm in die Augen. Der Mann sprach weiter.
Spanische Worte, von denen nur ein einziges in Alex'
Erinnerung haften blieb: »Venganza.«
Schmerz und Trauer schnürten dem jungen Mann, der vor
dem Grabstein stand, die Kehle zu. Er überließ sich seinen
Gefühlen.
Die Zeit schien stillzustehen. Er verspürte einen Schmerz,
den er noch nie empfunden hatte.
Seine Seele.
Er erwachte, als er Lisas Hand auf seinen Schultern spürte.
»Alex«, sagte sie.
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