Das Kind der Rache
er Hand in Hand mit ihr nach Hause ging.
Er hatte zwar nicht verstanden, wozu das gut sein sollte, aber
inzwischen wußte er, es wäre besser gewesen, wenn er auf
ihren Wunsch eingegangen wäre. Blieb die Frage, warum sie
zum Schluß so wütend geworden war. Eines der zahllosen
ungelösten Rätsel, die er mit sich herumtrug.
Es gab so viel in seinem Leben, was er nicht verstand.
Zu Beginn der Woche hatte er merkwürdige Erinnerungen
gehabt, Gedanken, die er nicht klar einordnen konnte. Als er
Maria Torres begegnete, hatte er einen stechenden Schmerz in
seinem Gehirn verspürt.
Selbst wenn es eine Erklärung für diese Dinge gab, so
blieben noch genügend offene Fragen. Alex spürte, daß ei die
für ihn wichtigen Zusammenhänge wohl nie begreifen würde.
Liebe.
Es schien ihm äußerst schwierig, einen Zugang zu diesem
Begriff zu finden. Seine Mutter hatte ihm oft gesagt, daß sie
ihn liebte. Alex zweifelte nicht daran, daß sie die Wahrheit
sagte.
Das Problem war, er verstand nicht, was Liebe bedeutete. Er
hatte das Wort in einem Lexikon nachgeschlagen. Dort stand,
daß es sich um ein Gefühl der Zuneigung handle.
Als er weiterlas, hatte er begriffen, daß er keine Gefühle
hatte.
Ob er mit Dr. Torres über das Problem sprechen sollte? Es
war offensichtlich, daß seine Freunde Empfindungen hatten,
die ihm fremd blieben.
Zum Beispiel Zorn.
Lisa hatte mit ihm gestritten. Sie war zornig auf ihn gewesen. Offensichtlich handelte es sich um ein Gefühl, das die
Menschen entwickelten, wenn sie mit irgendeiner Sache nicht
einverstanden waren.
Unklar war, wie man sich fühlte, wenn man Zorn empfand.
Vielleicht war es eine Empfindung, die mit dem Schmerz
vergleichbar war. Der Unterschied war, daß dieses Gefühl den
Verstand, nicht den Körper anging. Wie aber fühlte man sich,
wenn man Zorn empfand? Wahrscheinlich würde er nie eine
Antwort auf diese Frage bekommen. Irgend etwas lief
gründlich schief. Seit dem Unfall war er anders als seine
Freunde.
Und doch erwartete man von ihm, daß er sich an das
Verhalten der anderen anpaßte. Deshalb war er ja auch operiert
worden. Dr. Torres wollte ihn wieder in den Zustand versetzen,
in dem er sich vor dem Unfall befunden hatte.
Das Problem war, Alex konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie er vor dem Unfall gewesen war. Wenn mein
Gedächtnis besser funktionierte, ging es ihm durch den Kopf,
wäre alles leichter. Dann hätte er sich wenigstens so benehmen
können wie früher, auch wenn seinem jeweiligen Verhalten
keine Gefühle zugrunde lagen. Er hätte die Umwelt darüber
hinwegtäuschen können, daß er ein anderer geworden war.
Es gab bereits einige Täuschungsmanöver, die er sich
angeeignet hatte.
Er hatte gelernt, seine Mutter zur Begrüßung und zum
Abschied in den Arm zu nehmen. Er hatte gelernt, sie zu
küssen. Sie schien es zu mögen, daß er dieses Ritual befolgte.
Künftig würde er Lisa an der Hand nehmen, wenn sie
zusammen durch den Ort gingen. Und natürlich würde er auch
Bobs Coke bezahlen, wenn Lisa ihn darum bat.
Wie aber sollte er sich gegenüber den anderen Menschen
verhalten? Gab es vielleicht noch andere Freunde, die sich vor
dem Unfall von ihm Geld geborgt hatten? Freunde, die bei
anderer Gelegenheit die Rechnung für ihn bezahlt hatten?
Morgen würde er Lisa diese wichtige Frage stellen.
Oder besser nicht. Es war den Menschen sicher unangenehm,
wenn er sie mit so vielen Fragen eindeckte.
Bob Carey hatte eine Grimasse gezogen, als Alex ihn fragte,
welche Stadt er meinte. Er hielt ihn wahrscheinlich für einen
Einfaltspinsel. Aber er war alles andere als dumm, das hatte der
Test in der Schule bewiesen. Er war sogar intelligenter als
seine Freunde.
Er erhob sich vom Bett und ging ins Wohnzimmer. In dem
Bücherregal neben dem offenen Kamin standen die Bände der
Encyclopaedia Britannica. Alex zog den Band VIII heraus. Er
las nach, was dort über San Francisco stand.
Wenn er mit seinen Freunden durch San Francisco fuhr,
würde er mehr über jene Stadt wissen als sie.
Morgen, am Freitag, würde er sich außerdem einen Stadtplan
von San Francisco besorgen.
Es war einfach, sich Worte oder Pläne einzuprägen.
Schwieriger war es, die Dinge zu erahnen, die seine Umwelt
von ihm erwartete. Ebenso schwierig war es, diesen
Erwartungen zu entsprechen.
Wie auch immer, er würde sich anstrengen.
Vielleicht würde es lange dauern, bis er sich so benahm wie
alle ändern. Aber irgendwann würde es ihm gelingen.
Blieb das
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