Das Kind der Rache
anderer nicht lustig mache.«
Marsh überlegte, ob er sie in seine Gedanken einweihen
sollte. »Meinetwegen«, sagte er nach einer Weile. »Ich habe
das Gefühl, daß es bei der Heilbehandlung unseres Sohnes
nicht mit rechten Dingen zugeht. Ich kann es schwer in Worte
fassen, aber mein Verdacht wird von Tag zu Tag stärker.
Natürlich habe ich mir auch schon gesagt, daß es bei der
Beurteilung der Situation alle möglichen Unsicherheitsfaktoren
gibt. Ich weiß, Alex hat einen schweren Unfall gehabt, und er
ist am Gehirn operiert worden. Ich weiß auch, daß ich meine
Abneigung gegen diesen fabelhaften Dr. Torres nicht in die
Beurteilung einfließen lassen sollte. Aber obwohl ich mir all
das immer wieder vorhalte, bleibt das unangenehme Gefühl,
daß sich hinter der Sache ein schlimmes Geheimnis verbirgt.
Alex wirkt völlig verändert, und das ist mit der Gehirnverletzung nicht hinreichend erklärt.«
»Seine Veränderung hat logischerweise mit der Unfallverletzung und der Operation zu tun«, sagte Ellen. Sorgfältig
wählte sie ihre Worte, sie wollte ihren Mann nicht vor den
Kopf stoßen. »Alex ist verändert, aber er ist immer noch
Alex.«
Marsh seufzte. »Da sind wir verschiedener Meinung«, sagte
er. »Er hat sich verändert, und er ist nicht mehr Alex.«
Nein, dachte Ellen. Er darf nicht recht haben. Es ist klar,
warum er so denkt. Er kann sich nicht damit abfinden, daß Dr.
Torres eine Operation gemacht hat, zu der er selbst nicht in der
Lage gewesen wäre.
»Wir müssen jetzt viel Geduld haben«, sagte sie. »Einige
Wunder sind bereits geschehen. Vielleicht erleben wir bald
noch eines.«
Als sie an jenem Abend zu Bett ging, beschloß sie, daß sie
bei der nächsten Begegnung mit Dr. Torres nicht nur über Alex
sprechen würde.
Es gab einen zweiten Patienten. Sein Name war Marsh.
Maria Torres lag in ihrer Kammer. Es war Nacht, aber der
ersehnte Schlaf wollte sich nicht einstellen. Nachdem sie sich
stundenlang hin und her gewälzt hatte, stand sie auf und ging in
das Wohnzimmer, wo sie eine Kerze für die Heilige Jungfrau
Maria anzündete. Sie kniete nieder und sprach ein Dankgebet.
Sie war jetzt sicher, daß ihre früheren Gebete erhört worden
waren. Was sie im Haus von Dr. Lonsdale mitbekommen hatte,
bestätigte ihr, daß ihre Rachepläne in Erfüllung gehen würden.
Der Arzt und seine Frau hatten sich über Alex unterhalten, vor
allem über die Vision, die der Junge in San Francisco gehabt
hatte. Wie alle Gringos, so hatten auch Dr. Lonsdale und seine
Gemahlin nicht darauf geachtet, daß sie Zeuge des Gesprächs
war.
Für diese Menschen war sie eine Frau ohne Gesicht, ein
Niemand. Eine Alte, die in bestimmten Abständen im Haus
auftauchte und den Dreck der Herrschaft wegmachte.
Nun, die Gringos würden belehrt werden, wer sie war. Der
Himmel hatte ihre Gebete erhört. Alejandro war auf die Erde
zurückgekehrt.
Und Alejandro hatte Kontakt mit ihr. Er würde ihr zuhören,
wenn sie mit ihm sprach, und er würde tun, was sie sagte.
Sie wartete, bis die Kerze sich verzehrt hatte, dann schlüpfte
sie in ihr Bett zurück. Endlich würde sie schlafen können.
Sie hoffte, daß in dieser Nacht auch die Gringos tief und fest
schlafen würden.
Zwölftes Kapitel
»Wie kommt es«, fragte Alex, »daß Ihr Assistenzarzt heute
nicht hier ist?« Er lag auf dem Untersuchungsbett und hielt die
Augen geschlossen. Dr. Torres hatte damit begonnen, die
Elektroden an seinem Schädel zu befestigen.
»Weil heute Sonntag ist«, beantwortete Dr. Torres die Frage
des Jungen. »Mein Personal ist fleißig, aber trotzdem bestehen
sie darauf, daß ich ihnen pro Woche einen oder zwei Tage
dienstfrei gebe.«
»Sie selbst arbeiten sieben Tage in der Woche?«
»Auch ich genehmige mir dann und wann ein freies
Wochenende«, sagte er. »Allerdings nicht, wenn ich so einen
wichtigen Patienten habe.«
»Und alles, weil ich einen fehlerfreien Test abgeliefert
habe«, seufzte Alex.
Eine Weile lang herrschte Schweigen im Raum. Als Alex die
Augen öffnete, erblickte er den Arzt, der vor einer Schalttafel
stand. »Es geht nicht so sehr um deinen wunderschönen Test«,
nahm der Mann im weißen Kittel das Thema wieder auf. »Was
mich viel mehr interessiert: Was genau ist gestern in San
Francisco passiert?«
»Ich erkläre mir alles damit, daß ich nach und nach mein
Gedächtnis zurückgewinne.«
Dr. Torres zuckte die Achseln. »Wir werden gleich wissen,
ob es wirklich so ist. Und wir werden
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