Das Kind der Rache
auch herausfinden, ob du
dich auf deine Erinnerungen verlassen kannst. Vorläufig habe
ich den Eindruck, daß du noch viele Dinge
durcheinanderbringst.«
»Ich weiß, daß meine Erinnerungen korrekt sind«, protestierte Alex. »Wo jetzt das Büro der Schulkrankenschwester
ist, befand sich früher das Büro unseres Dekans. Meine Mutter
hat mir das bestätigt.«
»Richtig. Aber die Veränderung, von der du sprichst, hat
schon vor vielen Jahren stattgefunden. Damals warst du noch
gar nicht auf der High School. Wie kannst du dich an etwas
erinnern, was du nie gesehen hast? Zum Beispiel die Mission
Dolores! Du bist nie in San Francisco gewesen, trotzdem
spiegelt dir dein Gedächtnis eine Erinnerung an die Mission
Dolores vor. Wie erklärst du dir das?«
»Es wäre doch möglich«, sagte Alex, »daß ich Vorjahren
einen Ausflug nach San Francisco gemacht habe, an den ich
mich nicht mehr erinnere.«
»Nehmen wir einmal an, du hast recht. Dann erkläre mir
bitte, wie du dich an das Grab eines Mannes erinnerst, der seit
über hundert Jahren tot ist? Du hast mir sogar gesagt, daß es
das Grab deines Onkels ist. Aber du hast keinen Onkel. Und
selbst wenn du einen hättest, so ist es unvorstellbar, daß er im
Jahre 1850 das Zeitliche gesegnet hat. Was steckt dahinter,
Alex?«
»Ich weiß es nicht. Haben Sie eine Erklärung?«
Dr. Torres runzelte die Stirn. »Du weißt, daß es sinnlos ist,
mir diese Frage vor der Untersuchung zu stellen.«
»Ich weiß weniger, als Sie glauben«, antwortete Alex.
»Wahrscheinlich ist es so, daß ich viele Dinge nicht verstehe,
sondern nur registriere. Ich speichere die Erinnerung, das ist
alles.«
»Wenn es so ist«, sagte Dr. Torres, »dann wärst du, was man
in der Medizin einen Idiot savant nennt. Aber ich glaube das
nicht. Allein die Tatsache, daß du dir über die Zusammenhänge
sehr vernünftige Gedanken machst, beweist mir zur Genüge,
daß du alles andere bist als ein Idiot.« Er ließ ein paar
Disketten im Schlitz des Monitors verschwinden, dann zog er
eine Spritze auf. »Mein Assistent hat mir berichtet, daß du
einige Male zu früh aus der Narkose aufgewacht bist.« Er
versuchte, seiner Stimme eine beiläufige Färbung zu geben.
»Warum hast du mir nie etwas davon gesagt?«
»Ich dachte, es ist nicht so wichtig.«
»Würdest du mir beschreiben, was du empfunden hast, wenn
du zu früh aus der Narkose aufgewacht bist?«
Alex erklärte ihm, was er beim Nachlassen der Betäubung
verspürt hatte. »Aber es war kein unangenehmes Gefühl«,
beschloß er seine Schilderung. »Im Gegenteil, ich fand es
spannend. Die Stimmen und Bilder paßten zwar nicht
zusammen, aber das lag nur daran, daß die Eindrücke zu
schnell abliefen.« Er zögerte, bevor er weitersprach. »Warum
muß ich schlafen, während Sie mein Gehirn untersuchen?«
»Das hat dir mein Assistent doch schon erklärt«, sagte Dr.
Torres. Er rieb Alex' Armbeuge mit Alkohol ein und stach ihm
die Nadel in die Vene.
Alex stöhnte vor Schmerz. »Was passiert«, fragte er, »wenn
ich während der Untersuchung, die Sie durchführen wollen,
Schmerzen habe? Würden Sie den Test abbrechen?«
»Nein«, sagte Dr. Torres. »Wenn ich dich während der
Untersuchung aufwecke, verfälsche ich die Testergebnisse. Es
ist wichtig, daß du während der ganzen Untersuchung
schläfst.«
Dreißig Sekunden später schloß Alex die Augen. Sein Atem
wurde ruhiger. Dr. Torres warf einen prüfenden Blick auf die
Skalen, dann verließ er den Raum.
In seinem Büro angekommen, nahm er in seinem Drehstuhl
Platz und stopfte sich eine Pfeife. Während er sich die Pfeife
anzündete, wanderte sein Blick zu der Glasscheibe, die in die
Wand zwischen seinem Büro und dem Untersuchungsraum
eingelassen war. Er konnte die Geräte, an die Alex
angeschlossen war, durch die Scheibe kontrollieren. Soweit es
sich jetzt schon abschätzen ließ, würde der Test ohne
Zwischenfälle verlaufen. Er würde eine volle Stunde Zeit
haben, um mit der Mutter des Jungen zu sprechen, die in einem
Sessel gegenüber seinem Schreibtisch Platz genommen hatte.
»Können Sie mir bitte zunächst einen plausiblen Grund
nennen, warum Ihr Mann heute nicht mitgekommen ist?«
Ellen zupfte an ihrem Rocksaum. »Er ist... Wir haben einen
kleinen Streit gehabt.«
»Das überrascht mich nicht«, sagte Dr. Torres. Er schien sich
mehr für seine Pfeife zu interessieren als für Ellen. »Ich will
damit nichts gegen Ihren Mann sagen, aber ich habe ganz
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