Das Kind der Rache
dachte Marsh, sind der Spiegel der Seele. Wenn
das stimmte, dann hatte Alex keine Seele mehr. Bei diesem
Gedanken lief ihm ein kalter Schauder über den Rücken. Er
versuchte die Erinnerung an das Sprichwort zu verdrängen,
aber es gelang ihm nicht.
Der Nachmittag verstrich, während Marsh die Gedanken an
die leeren Augen seines Sohnes quälten.
Vielleicht hatte Ellen doch recht. Vielleicht hatte Raymond
Torres den Jungen nicht gerettet, sondern gestohlen. Vielleicht
war Alex wirklich tot.
Vierzehntes Kapitel
Kate Lewis hielt den Hörer an ihr Ohr gepreßt. Sie hatte die
Nummer ihrer Eltern gewählt, aber niemand nahm ab.
Wahrscheinlich hatte ihre Mutter den Vater ins Krankenhaus
gebracht. Aber wenn es so war, warum hatte sie keine
Botschaft auf den Anrufbeantworter gesprochen? Nachdenklich legte Kate den Hörer auf die Gabel zurück. Sie ging
zu Bob Carey, mit dem sie den Sonntagnachmittag verbracht
hatte. Sie hatten sich zwei Coke bestellt und saßen an einem
der Tischchen in Jake's Place.
»Immer noch niemand zu Hause?« fragte er.
»Es scheint so«, sagte sie. »Ich weiß gar nicht, was ich jetzt
tun soll. Am liebsten würde ich sofort nach Hause fahren, aber
meine Mutter hat gesagt, ich soll erst anrufen.«
»Das hast du nun den ganzen Nachmittag versucht«, sagte
Bob. »Warum fahren wir nicht zusammen hin? Wenn die
beiden immer noch streiten, können wir ja wieder weggehen.
Wir brauchen das Haus nicht einmal zu betreten, wenn du nicht
willst. Wenn du mich fragst, ich bin sicher, sie hat ihn ins
Krankenhaus gebracht.« Er beugte sich vor und streichelte ihre
Hände. »Du machst dir umsonst Sorgen, glaube mir! Wenn
dein Vater so betrunken war, wie du sagst, blieb deiner Mutter
ja gar nichts anderes übrig, als ihn in ärztliche Behandlung zu
bringen. Sie hat in der Eile sicher vergessen, den
Anrufbeantworter einzuschalten.«
Kate nickte, aber sie war nicht überzeugt. Bei früheren
Gelegenheiten hatte ihre Mutter immer eine Botschaft für sie
auf das Gerät gesprochen. Es war auch nicht wahrscheinlich,
daß sie Vater ins Krankenhaus gebracht hatte. Wenn nötig,
hätte sie den Krankenwagen gerufen.
Andererseits konnte Kate nicht länger hier herumsitzen und
abwarten. Ihr Vater hatte sich heute früh wirklich in einem
bedauernswerten Zustand befunden. »Fahren wir«, sagte sie.
Zehn Minuten später bog Bob mit seinem Porsche in die
Einfahrt vor Kates Elternhaus ein. Er schaltete den Motor ab,
wandte sich zu Kate und deutete auf die offene Garage, in der
zwei Wagen zu erkennen waren.
»Offensichtlich haben sie zu streiten aufgehört«, sagte Kate,
aber sie machte keine Anstalten, aus dem Wagen auszusteigen.
»Vielleicht hat deine Mutter einen Krankenwagen für deinen
Vater bestellt und ist mit in die Klinik gefahren«, mutmaßte
Bob.
Kate schüttelte den Kopf. »Wenn sie ihn mit dem Krankenwagen fortgeschickt hat, dann wäre sie mit dem eigenen
Wagen hinterhergefahren, damit sie ein Fahrzeug hat, um nach
Hause zurückzukehren.«
»Warte hier«, sagte Bob. »Ich gehe rein und sehe nach, was
los ist.«
Kate dachte über den Vorschlag nach, dann schüttelte sie den
Kopf. Mit zitternder Hand öffnete sie die Wagentür und stieg
aus. Sie ging den Weg entlang, der zur Haustür führte. Bob
folgte ihr.
Sie war erleichtert, die Tür unverschlossen vorzufinden.
Eines war sicher, ihre Mutter hätte das Haus nie verlassen,
ohne die Haustür abzuschließen. Sie öffnete und überquerte die
Schwelle.
»Mutter?« rief sie. »Bist du da?« Eine schwermütige Stille
erfüllte das Haus. Kate war so aufgeregt, daß sie ihr Herz
schlagen hörte. »Mutter?« rief sie, diesmal etwas lauter. Sie
warf Bob einen ängstlichen Blick zu. »Hier stimmt was nicht«,
flüsterte sie. »Die Tür war unverschlossen, meine Mutter
müßte also zu Hause sein.«
»Vielleicht ist sie oben«, sagte Bob. »Soll ich hinaufgehen
und nachsehen?«
Kate nickte, und Bob ging die Treppe hinauf. Wenig später
war er zurück. »Oben ist niemand«, sagte er. »Vielleicht sind
sie in der Küche. Ich gehe nachsehen.«
»Nein«, sagte Kate. »Es ist besser, wir rufen die Polizei.«
»Die Polizei«, echote Bob. »Warum?«
»Weil ich Angst habe«, sagte Kate. »Ich habe Angst, in die
Küche zu gehen!«
»Du übertreibst«, sagte Bob. Er ging den Flur entlang und
näherte sich der Küchentür. »Hier ist überhaupt nichts passiert.
Jedenfalls nichts, wovor du Angst haben müßtest. Deine Mutter
hat wahrscheinlich
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