Das Kind der Rache
wanderte zum Rathaus des Ortes, das einst die
Missionsstation gewesen war. Es mußte Jahrhunderte her sein,
daß sich Priester dort aufgehalten hatten.
Wie aber kam es, daß er sich an die Priester erinnerte, die
den Rasen pflegten?
Und wie war es zu erklären, daß die Menschen, die er
gesehen hatte, alles Fremde waren?
Die Worte, die sie in sein Ohr geraunt hatten, kehrten in sein
Gedächtnis zurück.
»Diebe... Mörder...«
Es waren die Worte, die er im Traum gehört hatte. Was er
erlebte, war die Erinnerung an seinen Traum. Und doch wußte
er, daß sich hinter diesen Worten ein Geheimnis verbarg.
Es war nicht Traum, es war Wirklichkeit. Aber Alex war
nicht in der Lage, weiter darüber nachzudenken. Es waren zu
viele Menschen auf dem Friedhof. Er konnte spüren, wie sie
ihn beobachteten. Also mußte er Theater spielen. Er mußte so
tun, als sei nichts passiert.
Die Stimme des Vaters drang an sein Ohr.
»Was hat dieser verfluchte Quacksalber hier zu suchen?«
Er folgte dem Blick seines Vaters und erkannte Raymond
Torres.
Alex begrüßte ihn mit einem Kopfnicken. Dr. Torres grüßte
zurück.
Er ist gekommen, um mich zu beobachten, dachte Alex. Das
Begräbnis ist nur ein Vorwand. In Wirklichkeit kommt er, weil
er mich kontrollieren will.
An den Rändern seines Bewußtseins machte sich so etwas
wie ein Gefühl bemerkbar.
Die Empfindung war so ungewohnt, daß Alex sie nicht
sofort einordnen konnte. Aber er war sicher, daß es keine
Täuschung war. Keine Täuschung und kein Traum. Er konnte
wieder fühlen. Er verspürte Angst.
»Wie geht es dir, Alex«, fragte Dr. Torres. Er streckte Alex die
Hand entgegen. Alex wußte, was er zu tun hatte. Er ergriff die
Rechte des Arztes und schüttelte sie. Das Begräbnis war vor
einer Stunde zu Ende gegangen. Der größte Teil der
Trauergemeinde war jetzt bei Valerie Benson. Die Leute
suchten nach den richtigen Worten, um Kate das Beileid
auszusprechen. Alex hielt sich abseits. Er betrachtete den
Teich, als Dr. Torres ihn aufspürte.
»Es geht mir gut, Herr Doktor«, beantwortete er Torres'
Frage.
»Und was war vorhin auf dem Friedhof?«
Alex zögerte. »Es war ähnlich wie auf dem Friedhof in San
Francisco.«
Dr. Torres nickte. »Und jetzt, in diesem Augenblick, hast du
wieder eine Erinnerung.« Eine Feststellung, keine Frage.
»So ist es«, sagte Alex. »Als ich vorhin dieses Haus betrat,
kam es mir bekannt vor. Aber es ist anders, als ich es in
Erinnerung habe. Der Patio ist noch der gleiche, aber der Teich
ist neu. Ich kann mich an den Teich überhaupt nicht erinnern.«
»Und wie erklärst du dir das?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Alex. »Ich habe mit Mrs. Benson
darüber gesprochen. Sie sagt, der Teich war schon immer
hier.«
»Ich möchte, daß du morgen ins Institut kommst«, sagte Dr.
Torres, »dann reden wir weiter darüber.«
Plötzlich stand sein Vater neben ihm. »Der Junge hat morgen
Schule«, hörte Alex ihn sagen.
Dr. Torres gab sich gleichmütig. »Er kann am Nachmittag
kommen, nach der Schule.«
Marsh zögerte. Sein Instinkt sagte ihm, daß er Dr. Torres
reinen Wein einschenken mußte. Er mußte ihm sagen, daß er
Alex morgen nicht ins Institut bringen würde. Er mußte ihm
klarmachen, daß er Alex überhaupt nicht mehr ins Institut
bringen würde.
Aber dies war nicht der richtige Ort für solch eine Aussprache. Er würde Alex morgen Nachmittag nach Palo Alto
begleiten. »Also gut, bis morgen«, hörte er sich sagen. In
gewisser Weise freute sich Marsh auf das Gespräch, das er mit
Dr. Torres führen würde. Es würde die letzte Unterredung sein,
bei der es um Alex ging. Ein Schlußstrich. Er ergriff Alex am
Arm und wollte ihn wegziehen, als Dr. Torres ihn festnagelte.
»Bevor Sie irgendwelche Entscheidungen treffen, empfehle
ich Ihnen, noch einmal sorgfältig die Vereinbarung
durchzulesen, die Sie unterzeichnet haben.« Nachdem er das
gesagt hatte, verließ der Arzt den Patio. Wenig später konnte
Marsh hören, wie er sein Auto startete.
Während Raymond Torres durch La Paloma fuhr, dachte er
darüber nach, ob es ein Fehler gewesen war, die Trauerfeier zu
besuchen. Er hatte eigentlich nicht vorgehabt, an dem
Begräbnis teilzunehmen. Die Beziehungen zwischen den
Bürgern von La Paloma und ihm waren seit Jahren gestört. Er
wußte, daß er von den Trauergästen wie ein Störenfried
empfangen werden würde.
Genauso war es gekommen. Warum hatte er nicht auf den
Rat seiner Mutter gehört?
»Loco«, hatte
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