Das Kind der Rache
sie gesagt. »Du bist mein Sohn, aber du bist Loco. Verrückt. Glaubst du etwa, du bist bei der Feier
willkommen? Glaubst du, sie mögen dich, weil du einen
Doktortitel und ein eigenes Institut hast? Wenn du das wirklich
denkst, dann geh doch hin! Du wirst feststellen, daß ich recht
habe. Sie werden dich so behandeln, wie sie uns Californios
immer behandelt haben. Hast du vielleicht gedacht, sie hätten
sich gebessert? Gringos bleiben Gringos. Natürlich werden sie
dir nicht ins Gesicht sagen, daß sie dich verachten. Sie sind ja
so höflich. Aber du wirst sehen, daß keiner dieser Menschen
dich zu sich nach Hause einlädt.« Die Augen seiner Mutter
funkelten vor Zorn. »Dabei sind es in Wirklichkeit unsere
Häuser. Häuser, die sie unseren Vorfahren weggenommen
haben!«
»Das ist schon einige Generationen her, Mama«, hatte er
entgegnet. »Vergeben und vergessen. Die Menschen, die heute
hier leben, haben nichts mit dem zu tun, was vor hundert
Jahren geschah. Und was Marty betrifft, ich gehe zu ihrem
Begräbnis, weil ich mit ihr aufgewachsen bin.«
»Du bist mit ihr zur Schule gegangen, das stimmt«, sagte
seine Mutter. »Aber hat sie je das Wort an dich gerichtet? Hat
sie dich damals wie ein menschliches Wesen behandelt?«
Marias Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Ich weiß, du
gehst nicht auf das Begräbnis, weil du ihr das letzte Geleit
geben willst. Es gibt einen anderen Grund. Warum, Ramon?«
Sein mühsam zusammengefügtes Selbstvertrauen war
erschüttert. Wie war es möglich, daß seine Mutter ihn
durchschaute? Woher wußte sie, daß er auf den Friedhof
gekommen war, um den Schmerz in den Gesichtern der
Trauernden zu sehen? Woher wußte sie, daß er sich auf diese
Weise für die Demütigungen rächte, die diese Menschen ihm
vor vielen Jahren zugefügt hatten? Sie weiß es nicht, dachte er.
Sie vermutet es nur. Und deshalb brauchte er es auch nicht
zuzugeben.
»Ich will zum Begräbnis, um Alex zu beobachten«, hatte er
ihr erklärt. Er erzählte ihr, was Alex in San Francisco erlebt
hatte. Die alte Frau nickte, als wüßte sie Bescheid.
»Weißt du auch, wessen Grab es war?« fragte sie. »Ich will
es dir sagen. Don Roberto hatte einen Bruder. Sein Name war
Fernando, und dieser Fernando war Priester von Beruf.«
»Willst du damit sagen, daß Alex Lonsdale einen Geist
gesehen hat?«
»Du solltest mit deinem abfälligen Urteil nicht so schnell bei
der Hand sein«, sagte sie. »Es gibt Legenden über Don
Robertos Familie.«
»Bei den Californios gibt es Legenden über alles mögliche«,
entgegnete er. »Legenden sind alles, was uns übriggeblieben
ist.«
»Nein«, widersprach ihm seine Mutter. »Wir haben mehr als
Legenden. Wir haben unseren Stolz. Du bist eine Ausnahme.
Du hast dich nicht mit diesem Stolz begnügt. Du wolltest mehr.
Du wolltest das gleiche haben, was die Gringos haben, auch
wenn du dazu in ihr Lager überlaufen mußtest. Du hast es
versucht, der Versuch ist mißlungen. Sieh in den Spiegel,
Ramon. Wer bist du? Du kannst dir teure Autos und
Maßanzüge leisten. Du hast eine teure Gringo-Erziehung
genossen. Aber dich die Americanos? Nein. Sie werden dich
nie wie einen der ihren behandeln.
Nach dem Streit hatte er das kleine Haus verlassen, wo er
geboren worden war. Inzwischen wußte er, daß seine Mutter
recht gehabt hatte. Er war sich auf dem Begräbnis wie ein
Fremder vorgekommen, obwohl er die meisten Trauergäste
kannte.
Trotzdem war es richtig, daß er hingegangen war.
Er war Zeuge einer wichtigen Veränderung bei Alex
Lonsdale geworden. Als Alex' Vater den Jungen am Arm
ergriff, hatte sich sein Gesichtsausdruck verändert.
Zum ersten Mal seit Monaten war Leben in die Augen des
Jungen gekommen. Er hatte ausgesehen, als hörte er Stimmen.
Aber was für Stimmen?
Raymond Torres dachte über diese Frage nach, während er
seinen Wagen nach Palo Alto zurücklenkte. Als er sein Institut
erreicht hatte, ging er unverzüglich in sein Büro und nahm sich
Alex' Krankengeschichte vor.
Etwas lief falsch. Alex zeigte Gefühle.
Eine Chance, aber vor allem eine Gefahr. Gefühle konnten
alles zerstören. Sie konnten Alex töten.
Sechzehntes Kapitel
Alex stand auf der kleinen Plaza und wartete auf den Schmerz,
der ihn immer durchzuckte, wenn er Erinnerungen hatte. Sein
Blick glitt über die alten Häuser, die den Platz umgaben.
Irgendwann hatte er sich eine Reihe von baulichen
Besonderheiten eingeprägt. Merkmale, die ihm helfen würden,
bestimmte
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