Das Kind der Rache
Häuser wiederzuerkennen. Aber so sorgfältig er die
Häuser auch untersuchte, er fand keinerlei Anhaltspunkte. Die
Umgebung des Platzes sah aus, wie sie immer ausgesehen
hatte. Ein Rathaus, das einst eine Missionskirche gewesen war.
Die Städtische Bücherei, die ursprünglich als Schule gedient
hatte.
Vergeblich wartete er auf die Stimmen. Auch der Schmerz
blieb aus. Merkwürdig.
Er überlegte eine Weile, dann betrat er das Gebäude der
Städtischen Bücherei. Er ging zu dem Schreibtisch, an dem die
Bibliothekarin saß. Arlette Pringle, die seit 30 Jahren dieses
Amt bekleidete, begrüßte ihn mit einem mißbilligenden Blick.
»Gibt es in der Schule einen neuen Ferientag, von dem ich
nichts weiß, Alex?« fragte sie.
Er verneinte die Frage. »Ich bin heute früh nicht zur Schule
gegangen, weil ich auf Mrs. Lewis' Begräbnis war. Und heute
nachmittag lohnt es sich nicht mehr hinzugehen.« Er deutete
auf die Bücherregale. »Ich suche ein bestimmtes Buch, das es
in der Schulbücherei nicht gibt.«
»Ich verstehe.« Aus Miß Pringles Sicht gab es zwei Möglichkeiten. Entweder der Junge hatte ihr eine Ausrede aufgetischt. Was unwahrscheinlich war, Miß Pringle kannte aus
langer Erfahrung alle Ausreden, die den jungen Leuten in La
Paloma einfielen. Zweite Möglichkeit: Alex wollte sich mit
Hilfe von Büchern über ein Thema informieren, das in der
Schule behandelt wurde. Nach einiger Überlegung entschied
Miß Pringle, daß es egal war, ob der Junge sie belog. Es kamen
so wenig Schüler in die Städtische Bibliothek, daß ihr jedes
neue Gesicht willkommen war. »Was für ein Buch suchst du?«
»Ein Geschichtsbuch, in dem die frühen Jahre von La
Paloma behandelt werden. Ich meine die Zeit, als die spanischen Missionare den Ort gründeten.«
Arlette Pringle öffnete den Deckel einer Bücherkiste, die
hinter ihr stand. Sie zog einen ledergebundenen Folianten
heraus und gab Alex das Buch. »Wenn du etwas über die
Vergangenheit von La Paloma lesen willst, dann ist das genau
das richtige. Allerdings ist das Buch schon vierzig Jahre alt.
Wenn du nach einem Buch neueren Datums suchst, muß ich
dich enttäuschen.«
Es war ein großformatiges Buch. Auf dem Umschlag war die
Plaza abgebildet. Alex begann zu blättern. Schon nach wenigen
Seiten hatte er gefunden, was er suchte. »Kann ich das Buch
ausleihen?« fragte er.
Miß Pringle schüttelte den Kopf. »Das geht leider nicht, weil
es davon nur ein Exemplar gibt. Cynthia Evans wollte es
neulich auch schon ausleihen, aber da habe ich natürlich auch
nein gesagt. Sie ist dann ein paarmal in die Bibliothek
gekommen, um sich Ideen für die Hazienda zu holen.« Er sah
sie verständnislos an, und dann erinnerte sich Arlette Pringle an
das, was man ihr über Alex' Gedächtnisverlust gesagt hatte.
»Das war, als Mrs. Evans die Hazienda restaurierte. Es ist
sicher ganz interessant, die alten Zeichnungen mit dem jetzigen
Zustand des Hauses zu vergleichen. Die Fassade ist jetzt
jedenfalls so, wie sie vor 200 Jahren war.«
Die Schwingtür wurde aufgestoßen, jemand brachte ein
Buch zurück. »Wenn du Fragen hast, brauchst du mich nur zu
rufen«, sagte Miß Pringle. Dann ging sie zu ihrem Schreibtisch.
Alex nahm an einem der schweren Eichentische Platz, die dem
eindrucksvollen, großen Raum einen rustikalen Charme
verliehen.
Das Buch, das vor Alex lag, bestand hauptsächlich aus alten
Zeichnungen. La Paloma, wie es vor 200 Jahren ausgesehen
hatte. Die Geschichte des Ortes hatte begonnen, als im Jahre
1775 die Franziskaner-Pater die Mission gründeten. Im Jahre
1820 hatte der Staat Mexiko den Californios das Landrecht
verliehen, und 1848 war das Vertragswerk, das mit dem
Namen Hidalgo Guadalupe verbunden war, unterzeichnet
worden. Ein ganzes Kapitel war Roberto Melendez y Ruiz
gewidmet, einem Californio, der aufgehängt worden war,
nachdem er versucht hatte, einen amerikanischen General zu
ermorden. Nach seiner Hinrichtung hatte die Familie die
Hazienda in den Hügeln oberhalb von La Paloma verlassen und
war in die mexikanische Heimat geflohen. Die übrigen
Californios folgten ihrem Beispiel.
Es gab genaue Zeichnungen, wie die Häuser von La Paloma
damals ausgesehen hatten. Es gab sogar Fotos.
Ziemlich am Schluß des Buches fand Alex die Abbildung
seines Elternhauses. Es gab kaum einen Unterschied zu heute.
Mit Ausnahme der Gartenmauer.
Ursprünglich, so war aus der Zeichnung zu ersehen, war die
Mauer mit einem Spalier besetzt
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