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Das Kind der Stürme

Das Kind der Stürme

Titel: Das Kind der Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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anwesend sein, um einen Schüler zu belehren.«
    Ich dachte an das verschlossene Zimmer, an die langen Zeiten des Schweigens. Er hatte seine Geheimnisse wirklich gut bewahrt.
    »Ich lade sie nicht leichten Herzens hierher ein, Fainne. Meine Mutter ist eine gefährliche Frau: Ich habe sie solange ich konnte von dir fern gehalten, aber jetzt brauchen wir sie. Es ist Zeit. Du solltest dich nicht dagegen auflehnen. Du bist meine Tochter, und ich bin stolz auf deine Fähigkeiten und auf das, was du erreicht hast. Dass ich dich wegschicke, ist ein Zeichen des großen Vertrauens, das ich in dich setze, Fainne, Vertrauen in deine Begabung und deine Fähigkeit herauszufinden, worin deine Aufgabe auf dieser Welt besteht. Ich hoffe, du wirst eines Tages verstehen, was ich dir sagen wollte. Jetzt ist es spät, und wir haben morgen zu arbeiten. Du solltest nun lieber schlafen gehen, Tochter.«
    Ich war zutiefst entsetzt über das, was Vater mir erzählt hatte, und ausgesprochen beunruhigt. Dennoch, ein Jahr war eine lange Zeit. In einem Jahr konnte viel passieren. Vielleicht würde ich ja nicht gehen müssen. Vielleicht würde er es sich anders überlegen. Inzwischen hatte ich nichts anders zu tun als weiterzuüben, denn wenn das Schlimmste eintrat und Vater mich wirklich ganz allein wegschickte, wollte ich so gut sein wie möglich. Ich schob meine Bedenken beiseite und widmete mich ganz der Arbeit.
    ***
    Es blieb noch recht warm, aber Vater hatte einen hartnäckigen Husten und war häufig außer Atem. Er versuchte, es zu verbergen, aber ich hörte ihn tief in der Nacht, wenn ich im Dunkeln wach lag.
    Ich übte nun ohne den Spiegel. Nach und nach hatte ich die Rezitation auf ein paar Worte reduziert. Ich veränderte meine Augen zu Blau oder Grün oder dem klaren Grau eines Winterhimmels. Ich formte sie länglich und schräg oder so rund wie die einer Katze, gab mir dichtere Wimpern, ließ die Augen vorquellen, die Wangen einsinken, die Haut faltig werden. Dann wandte ich mich langsam den anderen Zügen zu: der Nase, dem Mund, dem Schädel. Dem Haar. Der Kleidung. Ein altes Weiblein in Lumpen, vielleicht ich selbst in ferner Zukunft. Ein Fischermädchen mit der Hand auf der Hüfte, einem verlockenden Lächeln und blitzenden weißen Zähnen. Eine Fainne, die wie ich selbst war, beinahe eine Zwillingsschwester, aber auf subtile Art anders: die Lippen verlockender, die Brauen gebogener, die Wimpern länger. Die Figur schlanker und besser geformt. Die Haut hell und fein wie Perlmutt. Eine gefährliche Fainne.
    »Gut«, sagte Vater, der mich beobachtete, wie ich von einer Gestalt zur anderen überging. »Du bist dazu begabt, daran besteht kein Zweifel. Das Bild ist sehr überzeugend. Aber ich frage mich, ob du es auch längere Zeit aufrechterhalten kannst.«
    »Selbstverständlich kann ich das«, erwiderte ich sofort. »Prüfe mich doch, wenn du willst.«
    »Genau das werde ich tun.« Vater suchte ein Bündel von Schriftrollen und Briefen zusammen und griff nach einer fest zugeschnallten Ziegenledertasche, in der sich alles hätte befinden können. »Trag das hier für mich«, sagte er. »Es wird dir gut tun, dich ein bisschen zu bewegen.«
    Er ging bereits auf den Weg nach draußen zu, ohne dass seine Sandalen auf dem Steinboden Lärm verursacht hätten.
    »Wo gehen wir denn hin?« Ich war verdutzt und eilte ihm hinterher, immer noch in der anderen Gestalt, die nicht ganz ich selbst war.
    »Dan Walker wird morgen Früh nach Norden aufbrechen. Ich habe einen Auftrag für ihn und Briefe zu überbringen. Bleib, wie du bist. Verhalte dich so, wie du aussiehst. Lass mich deine Macht sehen.«
    »Aber – wird ihnen denn nicht auffallen, dass ich anders bin?«
    »Sie haben dich seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Mädchen werden schnell erwachsen. Kein Grund zur Beunruhigung.«
    »Aber –«
    Vater warf einen Blick über die Schulter, als wir am Weg über die Klippen aus der Honigwabe kamen. Seine Miene war neutral. »Hast du etwas dagegen?«, fragte er.
    »Nein, Vater.« Es gab kein Problem. Nur Dan und Peg und die anderen Männer und Frauen mit ihren scharfen Augen und ihren flinken Zungen. Nur die Mädchen und ihr Kichern und Flüstern und die Jungen mit ihren Witzen. Nur die Tatsache, dass ich das Lager nicht ein einziges Mal ohne Darragh an meiner Seite betreten hatte, nicht in all den langen Jahren, in denen Dan Walkers Leute ihre Sommer in der Bucht verbrachten. Nur dass es mich immer noch mit Entsetzen erfüllte, unter Menschen

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