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Das Kind der Stürme

Das Kind der Stürme

Titel: Das Kind der Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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präzise wie die Bewegung der Schatten im heiligen Kreis. Man konnte das Jahr nach ihnen berechnen. Die goldenen Zeiten. Die grauen Zeiten. Es kam mir so vor, als hätte die Stimme des Windes Worte. Ich werde wehen … wehen … ich werde nehmen … nehmen … Und das Meer antwortete ganz ähnlich: Ich habe Hunger … ich will haben … haben …
    Ich drückte die Hände auf die Ohren und rollte mich zusammen. Immerhin sollte ich mich ausruhen. Würde ich nicht einmal in Frieden schlafen können, bis die Sonne aufging? Die Stimmen wurden nicht leiser, also stand ich schließlich auf und zog mich an. Ich wusste nicht, was der Tag bringen würde, aber ich wollte mich intensiv beschäftigen und dieses kranke, leere Gefühl in meinem Magen so gut wie möglich ignorieren. Als ich die Stiefel anzog, hörte ich unter dem Rauschen des Windes und des Wassers sehr leise ein anderes Geräusch. Einen Ton oder zwei, Fragmente einer Melodie über einer stetigen soliden Grundlage. Die Stimme des Dudelsacks. Also waren sie noch nicht aufgebrochen. Ohne nachzudenken griff ich nach meinem Schultertuch und machte mich auf den Weg nach draußen und den Hügel hinauf zu den Stehenden Steinen. Mein Haar wurde hin und her gepeitscht, die Gischt sprühte so weit über die Klippen, dass ich auf dem Weg ihre eisigen Finger spüren konnte.
    Darragh hörte auf zu spielen, als er mich sah. Er hatte eine geschützte Stelle zwischen den Steinen gefunden und saß dort mit ausgestreckten Beinen, den Rücken gegen den großen Dolmen gelehnt, den wir den Wächter nannten – nicht gerade respektlos, nur ein Teil der Szenerie wie die Kaninchen, einfach so, als gehörte er dorthin. Ich stolperte vorwärts, strich mir das Haar aus den Augen und setzte mich neben ihn. Ich schlang mein Tuch fester um mich. Es war immer noch kaum hell, und in der Luft lag ein erster Hauch von Winter.
    Es dauerte eine Weile, bis ich zu Atem gekommen war.
    »Nun«, sagte Darragh schließlich, was nicht gerade hilfreich war.
    »Nun«, wiederholte ich.
    »Du bist schon früh wach.«
    »Ich habe dich gehört.«
    »Ich habe in diesem Sommer oft hier oben gespielt. Bisher hat dich das nicht rausgelockt. Wir brechen heute Früh auf. Aber das weißt du wohl.«
    Ich nickte, und plötzlich wurde ich von Bedauern überwältigt. »Es tut mir Leid«, murmelte ich. »Ich hatte viel zu tun. Zu viel, um rauszukommen. Ich –«
    »Entschuldige dich nicht, wenn du es nicht ernst meinst«, sagte Darragh leichthin.
    »Aber ich wollte – ich konnte nicht anders«, sagte ich.
    Darragh sah mir direkt in die Augen, sehr ernst und mit einem leichten Stirnrunzeln. »Man hat immer eine Wahl, Fainne«, sagte er nüchtern.
    Dann blieben wir eine Weile schweigend sitzen, und schließlich griff er wieder nach der Flöte und spielte ein Lied, das ich nicht erkannte und das so traurig war, dass es mir die Tränen in die Augen trieb. Nicht, dass ich wegen einer so dummen Sache geweint hätte, selbst wenn ich dazu in der Lage gewesen wäre.
    »Es gibt auch Worte dazu«, erklärte Darragh. »Ich könnte sie dir beibringen. Es hört sich schön an, der Dudelsack und Gesang dazu.«
    »Ich soll singen?« Das riss mich aus meinem Elend. »Lieber nicht.«
    »Du hast es nie versucht, oder?«, fragte Darragh. »Seltsam, ich habe nie jemanden kennen gelernt, in dem nicht wenigstens ein bisschen Musik steckt. Ich wette, du könntest die Selkies aus dem Meer singen, wenn du es nur versuchen würdest.« Es klang verlockend.
    »Ich nicht«, sagte ich tonlos. »Ich habe Besseres zu tun. Wichtigeres.«
    »Was denn?«
    »Du weißt doch, dass ich nicht darüber reden darf.«
    »Fainne.«
    »Was?«
    »Es gefällt mir nicht, wenn du das tust … das, was du gestern getan hast. Es gefällt mir nicht.«
    »Wenn ich was tue?« Ich zog die Brauen so hochmütig in die Höhe, wie ich konnte, und starrte ihn direkt an. Er erwiderte den Blick, ohne mit der Wimper zu zucken.
    »Wenn du mit den Jungen schäkerst. Und dich benimmst wie ein … ein albernes Mädchen. Das ist nicht recht.«
    »Ich kann mir nicht vorstellen, was du meinst«, entgegnete ich kühl, aber seine Kritik hatte mich bis ins Herz getroffen. »Und außerdem hast du mich nicht mal angesehen.«
    Darragh grinste schief, aber es lag keine Heiterkeit darin. »O doch, ich habe dich gesehen. Du hast ja dafür gesorgt, dass dich keiner übersehen kann.«
    Ich schwieg. »Und mein Vater hatte Recht«, sagte er nach einer Weile. »Du solltest heiraten und eine ganze

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