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Das Kind der Stürme

Das Kind der Stürme

Titel: Das Kind der Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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war eine andere Welt, eine Welt, die er sich in seinen wildesten Träumen nicht vorstellen konnte. Es war eine Welt, in der man stark genug sein musste, ganz allein weiterzugehen.

KAPITEL 2
    An diesem Tag brachte ich all meine Sachen in Ordnung. Ich machte mein schmales Bett und faltete die Decke. Ich fegte den Steinboden meines Schlafzimmers, das sich in einer der vielen Kammern im Irrgarten der Honigwabe befand. Ich legte mein Schultertuch und die Stiefel in die kleine Holztruhe, in der ich meine wenigen Besitztümer aufbewahrte. Unser Leben war sehr schlicht: Arbeit, Ruhe und Essen, wenn das notwendig war. Wir brauchten wenig. Tief in der Truhe, halb verborgen unter dem Winterbettzeug, lag Riona. Sie war der einzige Bestandteil meiner Habe, der keine absolute Notwendigkeit war. Riona war eine Puppe. Wenn die Leute von meiner Mutter sprachen, erzählten sie immer, wie schön sie war, schlank und anmutig wie eine junge Birke, und wie sehr mein Vater sie geliebt hatte. Sie sagten, dass sie immer ein wenig seltsam gewesen war, obwohl es alle entsetzt hatte, als sie auf so schreckliche Weise gegangen war. Aber man hörte sie nie davon sprechen, dass sie irgendwelche Begabungen gehabt hätte, so wie sie vielleicht erwähnten, dass Dan hervorragend Dudelsack spielen konnte oder Molly die beste Korbflechterin war, oder dass Peg die schmackhaftesten Klöße in ganz Kerry zubereitete. Man hätte glauben können, meine Mutter hätte überhaupt keine Eigenschaften gehabt, wenn man von Schönheit und Wahnsinn absah. Aber ich wusste es besser. Man brauchte Riona nur anzusehen, um zu wissen, wie gut meine Mutter mit der Nadel umgehen konnte. Nach all diesen Jahren war Riona ziemlich fadenscheinig, ihre Züge ein wenig verschwommen und ihr Kleid dünn geworden. Aber sie war gut und ordentlich gefertigt, mit solch winzigen, gleichmäßigen Stichen, dass sie beinahe unsichtbar waren. Sie hatte Finger und Zehen und aufgestickte Wimpern. Sie hatte langes Haar aus Wolle, das so gelb war wie Butterblumen, und ein Kleid aus rosafarbener Seide über einem Spitzenunterkleid. Der Halsschmuck, den Riona trug und der dreimal um ihren Hals gewickelt war, damit er auf keinen Fall verloren ging, war das Seltsamste von allem. Es war eine Schnur aus vielen verschiedenen Fasern, die so hergestellt war, dass sie nicht zerreißen konnte, auch nicht, wenn man sehr fest daran riss. An dieser Schnur befand sich ein kleiner weißer Stein mit einem Loch darin. Ich spielte nie mit Riona, wenn Vater in der Nähe war. Selbstverständlich war ich inzwischen ohnehin zu alt zum Spielen. Das war Zeitverschwendung, ähnlich albernen, gefährlichen Sprüngen von den Felsen ins Meer. Aber im Lauf der Jahre hatte Riona zahllose Abenteuer mit mir und Darragh erlebt. Sie hatte tiefe Höhlen und gefährliche Schluchten erforscht; sie war oft nur um Haaresbreite dem Sturz von den Klippen ins Meer entgangen, und sie war einmal beinahe von der Flut mitgerissen worden, weil ich sie am Strand vergessen hatte. Sie hatte Kronen aus Gänseblümchen und Umhänge aus Kaninchenfell getragen. Sie hatte unter den Stehenden Steinen gesessen und uns zugesehen, als wäre sie eine Königin, die huldvoll ihre Untertanen betrachtet. In ihren dunklen, gestickten Augen stand ein Wissen über mich, das manchmal verstörend war. Riona fällte kein Urteil über mich, jedenfalls nicht gleich. Sie beobachtete. Sie registrierte.
    An diesem Tag hatte ich das intensive Bedürfnis, etwas zu tun zu haben, meine Gedanken streng praktischen Dingen zuzuwenden. Als daher mein Zimmer sauber und aufgeräumt war, wandte ich mich der Höhle zu, in der wir unsere geringen Vorräte aufbewahrten, und holte den Fisch, den das Mädchen gebracht hatte, und ein paar Rüben. Der Fisch war schon ausgenommen und abgeschuppt. Vater und ich waren keine Köche. Wir aßen, weil es notwendig war, das war alles. Aber ich musste Zeit totschlagen. Also zündete ich das Feuer an und ließ es herunterbrennen, und dann warf ich die Rüben in die Kohlen und briet den Fisch darüber. Als es fertig war, brachte ich einen Teller zu Vaters Arbeitszimmer. Aber die Tür war von innen verriegelt. Ich konnte seine Stimme nicht hören, keine Rezitation, keine magischen Worte. Das einzige Geräusch war das Krächzen eines Vogels. Fiacha war zurückgekehrt. Das gefiel mir nicht, denn ich konnte Fiacha überhaupt nicht leiden. Der Rabe kam und ging, wie es ihm passte, und wenn er sich bei uns aufhielt, schien er mich immer mit seinen

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