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Das Kind der Stürme

Das Kind der Stürme

Titel: Das Kind der Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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stach ich mir in die Finger und kniff die Augen zusammen und verfluchte Großmutter leise. Aber ich lernte Nähen. Sie sah mit hochgezogenen Brauen zu, und einmal sagte sie: »Das bringt Erinnerungen zurück, o ja.«
    Sie lehrte mich auch andere Dinge, Lektionen, die ich nur errötend wiederholen könnte. Das war notwendig, erklärte sie, denn ich war ein Mädchen, und um in der Welt weiterzukommen, musste ich im Stande sein, einen Mann anzulocken und ihn zu halten. Es ging nicht nur darum, auf eine bestimmte Art zu gehen, Blicke zu werfen oder zu wissen, was man wann sagte oder wann man besser schwieg. Es ging auch nicht allein darum, Zauber zu benutzen, um hübscher oder verlockender auszusehen, obwohl das zweifellos hilfreich sein würde. Großmutters Belehrungen waren erheblich konkreter. Manchmal wand ich mich regelrecht, wenn ich ihr zuhörte, und ich glühte vor Verlegenheit, wenn ich ihr demonstrieren musste, was ich gelernt hatte. Der Gedanke, so etwas tatsächlich einmal tun zu müssen, entsetzte mich. Sie hielt mich für sehr dumm und sagte das auch. Sie erinnerte mich daran, dass ich fünfzehn Jahre alt und daher im heiratsfähigen Alter war und dass ich das Beste aus meinen geringen natürlichen Möglichkeiten machen und das Handwerk benutzen sollte, um sie zu verbessern, so gut es ging, oder ich hätte keinerlei Hoffnung, irgendwie weiterzukommen. Als ich mit diesen Lektionen rang, wurde mir vollkommen klar, warum Vater sie gerufen hatte, um mich zu unterrichten: Er hätte mir all das niemals selbst beibringen können. Es gibt Dinge, über die ein Mädchen nicht mit seinem Vater sprechen kann, ganz gleich, wie nahe sie einander stehen. Dennoch lag ich oft nachts wach und fragte mich, wie Vater zu seiner Entscheidung gekommen war, denn Großmutter war eine grausame Lehrherrin, und ihre Anwesenheit in der Honigwabe warf einen kalten Schatten auf mein Leben und füllte meine Nächte mit bösen Träumen. Warum war er weggegangen, so weit, dass ich nicht einmal wusste, wo er sich aufhielt? War das ebenfalls eine Art Prüfung? Er hatte mich noch nie zuvor verlassen, nicht einmal für eine einzige Nacht. Ich fühlte mich elend und einsam, und ich machte mir Sorgen um ihn. Er war meine Welt, meine Familie, das einzig Konstante in meinem Leben. Ich brauchte ihn, und er brauchte mich ebenfalls, denn es gab sonst niemanden, den er mit diesem seltenen Lächeln bedachte, das seine ernsten Züge so veränderte und mir den Mann zeigte, für den meine Mutter die Welt zurückgelassen hatte. Hatte er Angst vor Großmutter? Hatte er mich ihr deshalb ausgeliefert? Meine Träume zeigten ihn hager und blass, wie er irgendwo hustend und allein in einer dunklen Höhle saß. Ich wünschte mir, er würde nach Hause kommen.
    Der Herbst ging in den Winter über, und die Lektionen gingen in gnadenlosem Tempo weiter.
    »Sehr gut, Fainne«, sagte Großmutter eines Tages abrupt, als wir im Arbeitszimmer saßen und uns ausruhten. Den ganzen Nachmittag lang hatte sie mich eine Spinne in alle möglichen anderen Gestalten verwandeln lassen: eine flinke Eidechse, einen winzigen Vogel mit flatternden Flügeln, der verwirrt gegen die Steinwände stieß, eine Maus, die beinahe durch einen Riss in den Felsen geflohen war, bevor ich mit den Fingern schnippen und sie in einen sehr kleinen Feuerdrachen verwandeln konnte, der sehr kleine Dampfwolken ausstieß und in einem Miniatur-Trotzanfall mit den ledrigen Flügeln schlug. Ich war erschöpft und saß so schlaff auf meinem Stuhl, wie die Spinne nun in ihrem Netz über mir hing.
    »Zeit für eine Geschichtsstunde. Hör gut zu und unterbrich mich nicht, wenn es nicht notwendig ist.«
    »Jawohl, Großmutter.« Gehorsam war bei ihr immer der einfachste Kurs. Sie war sehr fantasievoll, was Strafen anging, und sie hasste es, wenn man ihr widersprach. Ich zog Vaters Lehrmethoden, die zwar streng, aber zumindest nicht unfreundlich waren, bei weitem vor.
    »Beantworte meine Frage. Wer war das erste Volk in Erin?«
    »Die Alten.« Diese Art von Fragen waren leicht. Vater hatte diese Geschichten über die Jahre an mich weitergegeben, und er und ich beherrschten Fragen und Antworten perfekt. »Die Fomhóire. Wesen aus dem tiefen Ozean, den Brunnen und Flussbetten. Wesen des Meeres und der tiefen Erde.«
    Großmutter nickte gebieterisch. »Und wer kam dann?«
    »Die Fir Bolg.«
    »Und danach?«
    »Dann kamen die Túatha Dé Danaan aus dem Westen, und sie haben nach und nach die anderen ins Exil geschickt und

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