Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Kind des Schattens

Titel: Das Kind des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
Vom Netzwerk:
ein.
    Kim sah, dass Kaens Hand sich wieder zur Faust geschlossen hatte, als Matt Niachs Aufforderung so gewandt zuvorkam.
    Er ist durcheinander, dachte sie. Matt hat ihn aus dem Gleichgewicht gebracht. Gefühle von Hoffnung und Vertrauen überkamen sie. Dann begann Kaen, der bis zu diesem Augenblick noch kein einziges Wort gesprochen hatte, mit dem Rededuell, und kurz darauf waren Kims Hoffnungen dahingeschwunden, weggeblasen wie zarte Wolken, die vom Bergwind zerrissen wurden.
    Sie hatte Gorlaes, den Kanzler von Brennin, für einen eloquenten Redner mit tiefer Stimme und einschmeichelnden Worten gehalten, sie hatte seine Beredsamkeit in früheren Tagen sogar gefürchtet, sie hatte Diarmuid dan Ailell in der Großen Halle von Paras Derval gehört und erinnerte sich an die Kraft seiner leichten, ironischen und gut gezielten Worte. Sie hatte Na-Brendel von den Lios Alfar vernommen, der die Rede bis zur Grenze der Musik und darüber hinaus führte. Und in ihrem eigenen Herzen, eingeprägt in ihrem eigenen Bewusstsein bewahrte sie noch immer Arthur Pendragons Stimme, wenn er befahl oder beschwichtigte … bei ihm schien beides manchmal in eins zu verschmelzen.
    Aber in Seithrs Halle in Banir Lök erlebte sie an jenem Tag, wie Worte beherrscht, gemeistert und zu einem funkelnden, glorreichen Gipfel geführt werden konnten; sie verwandelten sich geradezu in Diamanten, und das alles im Dienste des Bösen, der Finsternis.
    Kaen sprach, und sie hörte, wie seine Stimme sich in der Leidenschaft der Anklage majestätisch erhob, sie hörte, wie sie gleich einem Raubvogel herabschwebte, um eine Anspielung zu flüstern oder eine Halbwahrheit darzubieten, die selbst für sie eine Zeitlang wie eine Offenbarung aus den verwobenen Fäden des Webstuhls selbst klang; sie hörte, wie sie anstieg, um selbstsichere Behauptungen über die Zukunft auszusprechen, und dann zu einem scharfen Messer wurde, mit dem Kaen die Ehre des Zwerges, der neben ihm stand, erbarmungslos zerfetzte. Des Zwerges, der es gewagt hatte, zurückzukehren und ein zweites Mal mit Kaen zu kämpfen.
    Kims Mund war vor Angst ganz trocken, sie sah, wie sich Kaens Hände, seine großen schönen Handwerkerhände, während seiner Rede anmutig hoben und senkten, sie sah, wie seine Arme plötzlich in einer einladenden Geste der Ehrbarkeit sich weit öffneten, sie sah, wie eine Hand heftig nach oben stach, um eine Frage zu akzentuieren, und dann plötzlich locker und offen herabfiel, wenn er davon sprach, was die einzig mögliche Antwort sein konnte. Sie sah, wie er mit einem langen Zeigefinger voll unverhüllter und überwältigender Wut auf den zeigte, der zurückgekehrt war, und es schien ihr wie auch allen anderen in Seithrs Halle, dass diese anklagende Hand einem Gott gehörte, und es wurde nun geradezu erstaunlich, dass Matt Sören die Kühnheit hatte, noch immer aufrecht vor ihnen zu stehen, anstatt auf den Knien zu kriechen und einen gnadenvollen Tod zu erbitten, den er nicht verdiente.
    Aus dem Gewicht, der Form und der Struktur des Schweigens, hatte Niach gesagt, würde die Versammlung ihr Urteil ableiten. Als Kaen sprach, war die Stille in Seithrs Halle greifbar. Sie hatte Form und Gewicht und eine erkennbare Struktur. Selbst Kim, die nicht darin geübt war, eine so feine Botschaft zu lesen, konnte spüren, wie die Zwerge auf Kaen reagierten und ihm die Worte zurückgaben. Es waren Tausende von stimmlosen Zuhörern, die im Chor stimmten.
    Ehrfurcht lag in dieser Antwort und Schuldgefühle darüber, dass Kaen, der sich solange im Dienste seines Volkes abgemüht hatte, nun wieder gezwungen war, sich und seine Handlungen zu rechtfertigen. Und abgesehen von diesen beiden Dingen, Ehrfurcht und Schuld, war auch ein demütiges, dankbares Vertrauen in die Richtigkeit und Klarheit alldessen, was Kaen vorbrachte, spürbar.
    Er trat einen Schritt nach vorne und schien mit dieser kleinen Bewegung einer von ihnen zu werden, mit ihnen allen eins zu sein, zu jedem einzelnen Zuhörer in der Halle unmittelbar und intim zu sprechen. Er argumentierte: »Vielleicht glaubt jemand, dass der Zwerg, der jetzt neben mir steht, mit seinem einen Auge weiter sieht als irgend jemand anders in dieser Halle. Erlaubt mir, euch an etwas zu erinnern, etwas, das ich sagen muss, bevor ich zum Ende komme, denn es schreit geradezu danach, geäußert zu werden. Vor vierzig Jahren hat Matt, der Schwestersohn des Zwergenkönigs March in einer Neumondnacht einen Kristall für den Calor Diman gefertigt: Es

Weitere Kostenlose Bücher