Das Kind des Schattens
sehen, so sehr war sie durch ihre Tränen geblendet. Überall schien es zu regnen, in jener klaren, kühlen, sternenübersäten Nacht in Andarien.
»Komm, meine Liebe«, forderte Jaelle, die Hohepriesterin, sie auf und half ihr aufzustehen. Sie weinte. Die Seherin kam von der anderen Seite zu ihr, und Sharra ging, wohin sie sie brachten.
In den Armen seines Bruders wurde Diarmuid dan Ailell von dem Ort, an dem er starb, zurückgetragen, denn der Großkönig wollte es keinem anderen erlauben. Über die steinige Ebene trug ihn Aileron, auf beiden Seiten und ringsumher brannten die Fackeln. Er schritt den langen Abhang hinauf, der Körper des toten Bruders lag an seiner Brust, und manch einer wandte sich ab, um das Gesicht des lebenden Bruders nicht sehen zu müssen, als er den Toten wegtrug.
Sie errichteten einen Scheiterhaufen in jener Nacht in Andarien. Sie wuschen Diarmuids Körper und kleideten ihn in Weiß und in Gold und verbargen so seine schrecklichen Wunden. Sie kämmten sein goldenes Haar. Dann hob ihn der Großkönig zum letzten Mal auf und trug ihn zum Holz des Scheiterhaufens, und er legte seinen Bruder darauf nieder, küsste ihn auf die Lippen und trat zurück.
Dann kam Teyrnon, der letzte Magier von Brennin zusammen mit Barak, seiner Quelle, mit Loren Silbermantel und Matt Sören nach vorne, und sie alle weinten dort in der Dunkelheit. Aber Teyrnon warf seine Hand empor und sprach ein Wort der Macht, aus seinen Fingern schoss ein einzelner Lichtstrahl hervor, der weiß und golden flammte, wie das Kleid des toten Prinzen, und der Scheiterhaufen lohte plötzlich in Flammen auf und verzehrte den Körper, der auf ihm lag.
So verschied Diarmuid dan Ailell. So wurde sein unbezähmbares Strahlen am Ende zur Flamme und dann zur Asche und zu allerletzt zu den klaren Stimmen der Lios Alfar zum Lied unter den Sternen.
Kapitel 15
Während der Scheiterhaufen brannte, stand Darien weit, weit im Norden in der Dunkelheit unter der Valgrind-Brücke. Es war hier am Rande des Eises sehr kalt, die Sonne war verschwunden, und kein anderes lebendes Wesen war zu hören oder zu sehen. Er blickte über die dunklen Wasser des Flusses, über den sich diese Brücke spannte, und auf der anderen Seite sah er den massiven Ziggurat von Starkadh hochragen, wo in der Schwärze dieser mächtigen Festung, die seinem Vater gehörte, eisig grüne Lichter fahl hervorschienen.
Er war vollkommen allein. Nirgends waren irgendwelche Wachtposten aufgestellt. Wozu hätte Rakoth Maugrim sie auch gebraucht? Wer hätte sich jemals bis zu diesem unheiligen Platz gewagt? Vielleicht ein Heer, aber in dem baumlosen Ödland wäre es schon von weitem sichtbar gewesen. Nur ein Heer konnte bis hierher vordringen. Darien war auf seinem Weg hierher zahllosen Svart Alfar und riesigen Urgach auf ihrem Marsch nach Süden begegnet. Sie waren so zahlreich, dass vor ihnen die Weite dieses dürren Landes zu schrumpfen schien. Er erwartete nicht, dass irgendeine Armee hierher kommen würde: Nicht an diesen Horden vorbei, die er gesehen hatte. Er war mehrere Male gezwungen gewesen, sich zu verbergen, hatte im Schatten von Felsen Schutz gesucht, war auf seinem Wege allmählich westwärts abgeschwenkt, so dass die Legionen der Finsternis östlich an ihm vorbeizogen.
Er wurde nicht entdeckt. Niemand hielt nach ihm Ausschau, niemand hielt nach einem einzelnen Kind Ausschau, das einen Morgen, einen Nachmittag, dann einen kalten Abend und eine noch kältere Nacht hindurch nordwärts stolperte. Während der bleiche Rangat im Osten emporragte und die schwarze Feste Starkadh mit jedem Schritt beherrschender und bedrängender wurde, war er schließlich an der Brücke angelangt, kauerte nun unter ihr nieder und blickte über den Ungarch zu jenem Ort, zu dem er gehen wollte.
Aber nicht heute Nacht, entschied er. Er fror so sehr, dass er zitterte, schlang seine Arme eng um seinen Körper. Besser war es noch, die Kälte einer weiteren Nacht hier draußen zu ertragen, als in der Dunkelheit in diesen Ort einzutreten. Er blickte auf den Dolch, den er trug, und zog ihn aus der Scheide. Ein Klang gleich einer Harfensaite hallte dünn in der kalten Nachtluft wider. Auf der Schneide war eine bläuliche Ader, eine etwas breitere auf dem Dolchgriff. Beide schimmerten ein wenig unter den frostigen Sternen. Er erinnerte sich daran, was der kleine Waldgeist, Flidais zu ihm gesagt hatte. Während er Lökdal wieder in die Scheide steckte, wiederholte er die Worte im Geiste. Die
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