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Das Kind des Schattens

Titel: Das Kind des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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uns ausweichen würde, wenn wir nach Andarien marschieren. Dafür garantiere ich, ich und mein Volk. Zum ersten Mal seit Tausenden von Jahren sind die Lios Alfar aus Daniloth hervorgekommen. Er kann uns sehen, er kann uns erreichen. Wir sind nicht mehr im Schattenland verborgen. Er wird uns nicht umgehen. Es liegt nicht in seiner Natur, uns ziehen zu lassen. Rakoth Maugrim wird sich mit diesem Heer anlegen, weil die Lios Alfar nach Andarien gehen.«
    Dies war die Wahrheit. Ivor wusste es, sobald er die Worte gehört hatte, er wusste es tief in seinem Inneren. In seinem ganzen Leben hatte er nichts tiefer gewusst. Es bestätigte seinen eigenen Rat und gewährte die vollständige Antwort auf Mabons schreckliche Fragen, eine Antwort, die aus dem wirklichen Wesen der Lios Alfar geschaffen war, derer, die der Weber erwählt hatte, der Kinder des Lichtes … geschaffen aus ihrer Gegenwart und ihrer Vergangenheit und aus dem schrecklichen, bitteren Preis, den sie bezahlt hatten, der anderen Seite des Bildes, und dem Stein in der Tasse.
    Sie waren der Finsternis am meisten verhaßt, denn ihr Name war Licht. Ivor hätte sich am liebsten verbeugt, wäre niedergekniet, um seinen Gram, sein Mitleid, seine Liebe und die Dankbarkeit seines Herzens darzubieten. Angesichts der Worte, die Ra-Tenniel gerade ausgesprochen hatte, schien keiner von ihnen der Situation gewachsen. Ivor fühlte sich schwer wie Lehm, und wenn er auf die drei Lios Alfar blickte, empfand er sich wie einen Erdklumpen.
    Und ja, dachte er, ja, genau das war er auch, er war prosaisch, untheatralisch, er glänzte und leuchtete nicht, er gehörte tatsächlich zur Erde, zum Gras. Er gehörte zur Ebene, die immerfort trug und ertrug, die auch dies ertragen würde, wenn sie die Tage, die vor ihnen lagen, würden durchstehen können … Im umgekehrten Fall allerdings …
    Wie auch Ra-Tenniel es eben getan hatte, griff auch er auf seine eigene Geschichte zurück und warf alle Gedanken und Gefühle beiseite, die nicht von Stärke und Widerstand geprägt waren. »Vor tausend Jahren führte der erste Aven der Ebene alle Dalrei-Jäger, die reiten konnten, in die gewobenen Nebel und die umgekehrte Zeit von Daniloth, und der Weber legte eine gerade Spur für sie aus. Auf einem Schlachtfeld in der Nähe der Lindenbucht kamen sie wieder heraus. Von dort ritt Revor neben Ra-Termaine über den Celyn-Fluss nach Andarien. Und ebenso, mein strahlendster Herr, werde ich neben dir reiten, falls das beim Verlassen dieses Ortes der Entschluss sein wird.«
    Er hielt inne und wandte sich an den anderen König im Raum. »Als Revor ritt und Ra-Termaine, hatte Conary von Brennin die Befehlsgewalt über das Heer inne, und später dann sein Sohn Colan. So war es damals, und mit Recht … denn die Großkönige von Brennin sind die Kinder von Mörnir … und mit demselben Recht wird es wieder so sein, wenn du, Hoher König, diesen Ratschluss annimmst.«
    Er war sich der Klangfülle, der überquellenden Kraft seiner eigenen Stimme nicht im geringsten bewusst. Er sagte: »Du bist der Erbe der hohen Stellung, die Conary innehatte, wie wir die Erben von Revor und Ra-Termaine sind. Nimmst du diesen Ratschluss an? Du, Aileron dan Ailell, hast hier die Macht. Möchtest du, dass wir mit dir reiten?«
    Dunkel und bärtig, schmucklos mit dem Schwert eines Soldaten in einer einfachen Scheide sah Aileron tatsächlich aus wie der Inbegriff eines Kriegskönigs. Er war nicht strahlend hell wie Conary oder Colan oder selbst sein eigener Bruder. Er war streng, ausdruckslos und grimmig, und zugleich einer der jüngsten Männer im Raum.
    »Ich nehme an«, entschied er, »ich möchte, dass ihr mit mir reitet. Wenn das Heer morgen ankommt, brechen wir nach Andarien auf.«
     
    Eine schlanke narbenbedeckte Gestalt, die auf dem Rücken eines der hässlichen Slaug merkwürdig aristokratisch aussah, verlangsamte ihren Ritt und zügelte das Reittier, bis es ganz anhielt. Reglos auf der weiten Ebene, auf halbem Wege zwischen Celidon und dem Rand der Ebene, ein wenig näher schon in Richtung Gwynir, beobachtete der Reiter, wie sich Rakoths Heer zurückzog und der aufgewirbelte Staub herabsank.
    Den größten Teil der Nacht war er in seiner Wolfsgestalt gelaufen. In sorgsamem Schweigen hatte er zugesehen, wie Uathach, der Riesenurgach in Weiß, aus einer anfänglich blinden Flucht einen geordneten Rückzug machte. Es war nicht entschieden, wer hier den Vorzug hatte, irgendwann müsste es entschieden werden, aber nicht jetzt.

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