Das Kind des Schattens
ihrem Gesichtsausdruck, dass sie seine Warnung gar nicht benötigte. Sie wusste bereits, wer dieser Junge war, der vor ihnen stand. Brendel blickte in ihr Antlitz, das nun nass von der Meeresgischt war, und trat zur Seite, als sie zum Fluss hinging, wo Darien stand.
Flidais stellte sich neben ihn, auf seinem kahlen Kopf glitzerten Wassertröpfchen, aus seinem Gesicht sprach heftigste Neugier. Brendel dachte an das Schwert, das er trug, und steckte es schweigend in die Scheide. Dann beobachteten er und der Andain, wie Mutter und Kind seit der Nacht, als Darien geboren wurde, zum ersten Mal wieder zusammenkamen.
Brendel wurde sich zunehmend bewusst, wie viele Dinge hier vielleicht in der Schwebe waren, der Gedanke überwältigte ihn. Er würde niemals jenen Nachmittag beim Sommerbaum und Cernans Worte vergessen: Warum durfte er leben? Daran dachte er, und er dachte an Pwyll weit draußen auf dem Meer, und unaufhörlich war er sich dessen bewusst, dass Cernans Sohn eben jetzt auf sie zulief, schnell war er wie das Gewitter, das sich zusammenbraute, und noch gefährlicher.
Er sah auf den Andain neben sich nieder und misstraute dem lebhaften, wissbegierigen Leuchten in Flidais’ Augen. Aber was konnte er schließlich tun? Er konnte furchtsam und kampfbereit dabeistehen, er konnte Jennifer verteidigen und dabei sterben, wenn es soweit kam, er konnte beobachten.
Und er beobachtete, wie Darien vom Flussufer zögernd nach vorne trat. Als der Junge näher kam, sah Brendel eine Art Diadem mit einem dunklen Stein darin um seine Stirn, und tief in seinem Bewusstsein erklang ein Läuten, es war Kristall gegen Kristall, eine Warnung aus Erinnerungen, die nicht die seinen waren. Er versuchte, sie zurückzuholen, aber noch währenddessen sah er, wie der Junge seiner Mutter einen in der Scheide steckenden Dolch entgegenhielt, und als Darien sprach, waren Brendels Erinnerungen durch die dringlichen Erfordernisse der Gegenwart wie weggewischt.
»Möchtest du … Wirst du ein Geschenk annehmen?« hörte er. Es schien ihm, als sei der Junge bereit, auf einen Atemzug oder das Fallen eines Blattes hin plötzlich zu entfliehen. Er blieb ganz ruhig und konnte es kaum glauben, was Jennifer ihrem Sohn zur Antwort gab.
»Steht es dir zu, mir dieses Geschenk zu machen?« In ihrer Stimme waren Eis und Stahl, hart, kalt und tragend schnitt sich ihr Ton durch den Wind, scharf wie der Dolch, den ihr ihr Sohn anbot.
Darien war verwirrt und unvorbereitet. Er stolperte rückwärts, der Dolch fiel ihm aus den Fingern. Brendel litt mit ihm, mit ihnen beiden, aber er schwieg weiter, obwohl sein ganzes Wesen Jennifer zuschreien wollte: Sei vorsichtig, sei sanft, tu, was du nur kannst, um den Jungen zu halten und an dich zu ziehen.
Da hörte er hinter sich ein Geräusch. Schnell blickte er sich um, seine Hand griff zum Schwert. Am Waldesrand im Osten vom Anor stand die Seherin von Brennin, ihr weißes Haar peitschte über ihre Augen. Unmittelbar darauf erkannte er die Hohepriesterin und dann Sharra aus Cathal, mit ihrer unverwechselbaren Schönheit, und das Geheimnis wurde klarer und tiefer zugleich. Sie mussten mit Hilfe der Erdwurzel und Jaelles Kraft vom Tempel gekommen sein. Aber warum? Was ging vor sich? Auch Flidais hatte sie kommen hören. Jennifer und Darien dagegen waren zu sehr miteinander beschäftigt. Brendel wandte sich wieder ihnen zu. Hinter Jennifer stehend konnte er ihr Gesicht nicht sehen, aber ihr Rücken war gerade, ihr Kopf gebieterisch gestreckt, als sie ihrem Sohn gegenüberstand.
Und Darien, der in dem wilden Wind klein und zerbrechlich aussah, stammelte: »Ich dachte, er könnte … dir gefallen. Ich habe ihn an mich genommen. Ich dachte …«
Aber jetzt, fuhr es Brendel durch den Kopf, jetzt würde sie ihm doch sicher den Weg ebnen?
»Er gefällt mir nicht«, antwortete Jennifer. »Warum sollte ich mich über einen Dolch freuen, der dir nicht gehört?«
Brendels Hände krampften sich zusammen, und ihm war, als ob eine Faust auch sein Herz zusammenquetschte. Oh, vorsichtig, dachte er, oh, sei bitte vorsichtig.
»Was tust du hier?« hörte er Dariens Mutter fragen. Der Junge riss seinen Kopf herum, als ob sie ihn geschlagen hätte. »Ich … ich … sie hat es mir verraten. Die Weißhaarige, die meinte, du seist …« Seine Worte versagten. Was auch immer er sonst noch vorbrachte, verlor sich im Toben des Sturms.
»Sie sagte, dass ich hier sei«, erwiderte seine Mutter kalt und sehr klar. »Gut. Natürlich hatte sie
Weitere Kostenlose Bücher