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Das Kind des Schattens

Titel: Das Kind des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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Mal zwang sie ihr Bewusstsein zurück auf den Strand. Jede Minute wurde es dunkler. In der Dämmerung war Diarmuids Haar noch immer hell, es fing die letzte Farbe des Westhimmels auf. Und nun sprach der Prinz.
    »Also gut«, ließ er sich vernehmen. »Es scheint, dass wir jetzt alles gehört haben. Wir wollen unserer reizenden Priesterin für all diese Nachrichten dankbar sein, jetzt, da Loren Teyrnon nicht mehr erreichen kann. Kim, so vermute ich, hat eine Vision vom Caloriman, aber nicht von den Heeren gehabt. Und Jaelle hat ihren Vorrat an nützlichen Nachrichten erschöpft.«
    Der Spott schien eher nachdenklich und halbherzig. Sie gab sich keine Mühe, ihn zu erwidern. Und Diarmuid wartete auch nicht darauf, sondern fuhr mit einem anscheinend wirklich bedauernden Kopfschütteln fort: »Das heißt, wir hängen davon ab, was ich mit meinem noch geringeren Wissen über meinen geliebten Bruder vermuten kann.«
    Auf irgend eine unerklärliche Weise hatte der gewandte Fluss seiner Worte eine beruhigende Wirkung. Wieder einmal, bemerkte Jaelle, wusste dieser junge Mann, den sie immer verächtlich als »Prinzling« bezeichnete, ganz genau, was er tat. Er hatte bereits entschieden, und nun versuchte er, diese Entscheidung mühelos und wenig bedeutend klingen zu lassen. Jaelle blickte auf Sharra, die neben dem Prinzen stand. Sie war sich nicht sicher, ob sie sie bemitleiden solle oder nicht, und das war eine weitere Veränderung in ihr. Früher hätte sie es bedenkenlos getan.
    »In einer Zeit wie der jetzigen«, führte Diarmuid weiter aus, »fällt mir nichts Besseres ein, als zu meinen frühreifen Kindheitserinnerungen zurückzugehen. Vielleicht haben einige unter euch geduldige und hilfreiche ältere Brüder gehabt. Ich aber bin durch das Fehlen eines solchen Bruders bitter enttäuscht worden. Loren wird sich erinnern können. Seit der Zeit, als ich meine ersten unsicheren Schritte hinter meinem Bruder versuchte, war eines vollkommen klar: Aileron hat niemals auf mich gewartet.«
    Er hielt inne und blickte auf Loren, als ob er eine Bestätigung suche, fuhr dann aber in einer Stimme fort, aus der jeder neckische Unterton plötzlich verschwunden war: »Er wird auch jetzt nicht warten, er könnte es auch nicht angesichts des Ortes, wo wir uns befinden. Wenn er mit dem Heer auf der Ebene ist, und die Lios mit ihm, dann wird Aileron zur Schlacht drängen. Darauf wette ich mein Leben. Tatsächlich, mit eurer Erlaubnis will ich wirklich euer Leben und meins dafür einsetzen. Aileron wird, so schnell er kann, den Kampf nach Starkadh führen, und das kann meines Erachtens nur eines bedeuten.«
    »Andarien«, fiel ihm Silbermantel ins Wort, der, wie sich Jaelle plötzlich erinnerte, sowohl Diarmuids wie auch seines Bruders Lehrer war.
    »Andarien«, echote der Prinz ruhig. »Er wird durch Gwynir nach Andarien gehen.«
    Ein Schweigen folgte. Jaelle nahm das Meer wahr, den Wald im Osten und jetzt auch ganz deutlich den dunklen Umriss von Lisens Turm, der über ihnen in der Dunkelheit aufragte.
    »Ich schlage vor«, fuhr Diarmuid fort, »dass wir den Westrand von Pendaran umgehen, uns von hier aus also zuerst nach Norden wenden. Dann sollten wir die Richtung ändern, Sennett durchqueren und, wenn Kindheitserinnerungen irgend etwas wert sind, am anderen Ufer des Celynflusses mit dem Heer von Brennin und Daniloth und den Dalrei an der Grenze von Andarien zusammentreffen. Sollte ich unrecht haben«, schloss er und richtete ein großzügiges Lächeln auf Jaelle, »dann haben wir zumindest die Hohepriesterin bei uns, und sie wird alles in Schrecken versetzen, was wir fünfzig Männer dort vorfinden.«
    Sie warf ihm nur einen frostigen Blick zu, weiter nichts.
    Sein Lächeln wurde breiter, als ob ihr Gesichtsausdruck seine Bemerkung nur bestätigt hätte, wandte sich dann aber in einer seiner blitzschnellen merkurischen Stimmungsänderungen Arthur zu, der inzwischen aufgestanden war.
    »Mein Herr«, sprach ihn der Prinz ohne die geringste Leichtfertigkeit an, »das ist mein Rat in diesem Augenblick. Ich werde jedem Vorschlag, den Ihr macht, mein Ohr leihen, aber mir sind die Örtlichkeiten hier bekannt, und ich glaube, ich kenne meinen Bruder. Wenn es nicht irgend etwas gibt, was Ihr wisst oder spürt, dann, glaube ich, müssen wir nach Andarien gehen.«
    Der Krieger schüttelte langsam seinen Kopf. »Ich bin niemals zuvor in dieser Welt gewesen«, gab Arthur in seiner tiefen, tragenden Stimme zu, »und ich habe nie einen Bruder in

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