Das Kind
Säuglinge vertauscht?«
»Genau. Direkt nach der Entbindung. Das Klappenbaby sah Felix zum Glück sogar ähnlich. Aber selbst wenn er größer, dicker oder hässlicher gewesen wäre, hätten Sie so kurz nach der Geburt einen Austausch niemals bemerkt. Sogar das kleine Feuermal fi el Ihnen erst bei der zweiten Begegnung mit Ihrem Sohn auf. Und da hatten wir ihn schon ausgewechselt.«
Stern nickte widerwillig. Die »Stimme« hatte recht. Im erschöpften Glückszustand unmittelbar nach der schweren Geburt hatte man Sophie das nasse und blutverschmierte Lebewesen in eine Decke gehüllt übergeben. Und da Felix der einzige Junge auf der Station gewesen war, hatten sie auch gar keinen Anlass zur Sorge gehabt, als er zur Erstversorgung aus dem Zimmer getragen wurde. Warum auch sollte jemand ihnen etwas so Grausames antun wollen? »Begreifen Sie endlich? Mit Ausnahme der ersten Sekunden
nach der Geburt war es immer das Klappenbaby, das Sie gestreichelt und liebkost haben.«
Die verwackelten Bilder von der Säuglingsstation zuckten noch einmal blitzartig durch Sterns Erinnerung. »Und dieses andere Baby …?«
»… starb, wie erwartet, zwei Tage nach dem Austausch. Sie haben die Aufnahmen des Überwachungsvideos selbst gesehen.«
»Moment mal, das waren doch niemals Bilder von einer …« »… von einer fest installierten Überwachungskamera?«, fragte die Stimme amüsiert. »Wieso denn nicht? Wegen der Schnitte? Den verwackelten Bildern, Nahaufnahmen, dem Zoom und anderen digitalen Effekten? Was glauben Sie denn, was mit moderner Bildbearbeitungssoftware alles möglich ist? Man kann zum Beispiel ein Feuermal in der Form Italiens auf die Schulter eines zehnjährigen Jungen scannen. Ist es nicht eine Ironie des Schicksals, dass ich Sie anlügen musste, damit Sie mir die Wahrheit glauben?« Stern schrie: »Was ist, wenn Sie schon wieder lügen?« »Finden Sie es heraus. Mehr kann und will ich Ihnen nicht sagen. Treffen Sie eine Entscheidung. Nehmen Sie das Tuch aus der Box, wenn Sie Ihren Sohn wiedersehen wollen.« Stern starrte auf die Plastikdose in seinen Händen. »Oder leben Sie wohl.«
Auf der »Brücke« erloschen alle Lichter, und auf einmal war der gesamte Platz vor dem wogenden See in völlige Finsternis getaucht. Stern presste sich das Handy noch fester an sein brennendes Ohr. Doch die Leitung war tot. Die »Stimme« hatte aufgelegt.
Und jetzt?
Er betrachtete die Zündschlüssel, mit denen er den Wagen hätte starten und wegfahren können. Aber wohin? Zurück
in ein Leben, dessen Leere ab sofort mit quälenden Zweifeln gefüllt sein würde? Er ahnte, dass er eben die gut durchdachte Lüge eines Wahnsinnigen gehört hatte. Doch letztlich kam es darauf nicht mehr an. Wichtig war einzig und allein, wie sehr er an diese Lüge glauben wollte. Stern öffnete die Box, hielt noch einmal kurz inne und zog dann das feuchte Zellstofftuch heraus. Es lag schwer und nass in seiner Hand, durchtränkt mit einer Substanz, die ihn vielleicht nicht umbringen, aber mit Sicherheit dem Tode näher bringen würde. Er musste an ein Grabtuch denken, als er damit sein Gesicht bedeckte. Dann hielt er die Luft an und dachte an Felix. Als seine Lungen zu platzen drohten, öffnete er Mund und Nase gleichzeitig und atmete tief durch. Er schaffte drei bewusste Züge, dann wurde alles um ihn herum unendlich still.
6.
I n dem Raum stank es nach Schweiß und Erbrochenem. Ca rina befürchtete das Schlimmste, als sie das Ruhezimmer betrat, das vom Krankenhauspersonal für kurze Schlafpausen genutzt werden konnte, wenn die SechsunddreißigStunden-Schicht es einmal zuließ.
»Hier hab ich ihn zuletzt reingehen sehen«, fl üsterte die rothaarige Schwester, die vor der Tür im Gang stehengeblieben war. Carina versuchte erst gar nicht, das Licht in dem abstellkammergroßen Zimmer anzuschalten. Die Halogenstrahler an der Decke funktionierten nicht, aber niemand hatte dem
Hausmeister Bescheid gegeben. Wer sich hierhin zurückzog, brauchte keine Lampen. Deshalb waren die Rollos vor den Fenstern auch ständig zugezogen.
Doch selbst das spärliche Licht, das vom Flur in die Kammer fi el, zeigte genug von der Szenerie, um Carina erschauern zu lassen.
Picasso!
Er lag in einer Pfütze vor dem schmalen Sofa. Entweder war er heruntergefallen, oder er hatte es gar nicht erst dorthin geschafft.
»Was ist denn hier … o mein Gott.« Die Schwester hinter ihr presste sich zitternd ihre Hand vor den Mund. »Holen Sie sofort einen Arzt und die Polizei«, fl
Weitere Kostenlose Bücher