Das Kind
stünde dann nicht trotzdem ein Stuhl vor
der Tür?
Zimmer 203, 205, 207. Ihre Schritte wurden mit jeder Tür schneller, an der sie vorbeikam.
Oder hatten sie tatsächlich auf einen Personenschutz ver-
zichtet? Nachdem Simon schon mal entführt worden war?
Ausgerechnet heute?
Sie passierte Zimmer 209 im Laufschritt. »Hallo? Carina?«, hörte sie eine aufgeregte Frau hinter sich rufen. Vermutlich die Aushilfe. Im Gegensatz zu dem Lachen von vorhin kam ihr die Stimme bekannt vor, aber sie drehte sich trotzdem nicht zu ihr um. Das konnte und musste warten.
Stattdessen riss sie die Tür mit der Nummer 217 auf und wollte schreien. Weil sie genau das sah, was sie befürchtet hatte. Nichts. Kein Kind. Kein Simon. Nur ein einzelnes frisch bezogenes Bett wartete auf einen neuen Patienten. »Carina Freitag?«, fragte es wieder, diesmal direkt hinter
ihr.
Sie drehte sich um. Tatsächlich, eine Neue. Die Rothaarige hatte einmal in der Caféteria neben ihr gesessen. Marianne, Magdalena, Martina … oder so. Völlig egal, wie sie hieß. Für Carina zählte in diesem Moment nur ein einziger Name, und der, der ihn trug, war verschwunden. »Simon, wo ist er?«
»Sie haben ihn verlegt, aber ich …«
»Verlegt? Wohin?«
»In die Kennedy-Klinik.«
» Was? Wann?«
»Keine Ahnung, das steht als Eintrag im Wachbuch. Meine Schicht hat grad erst begonnen. Hör mal, mach mir jetzt bitte keine Schwierigkeiten. Ich hab Anweisungen, den Oberarzt zu holen, sobald du auftauchst.«
»Dann tu das. Und ruf am besten gleich die Polizei.« »Wieso?« Die Schwester ließ die Hand mit dem Haustelefon wieder sinken.
»Weil Simon entführt wurde. Im JFK gibt es keine Neuroradiologie. Das ist eine Privatklinik für Innere Medizin.« »Oh …«
»Wer hat das abgesegnet? Wer hatte vor dir alles Dienst?« Die Rothaarige war jetzt völlig verunsichert. Sie zählte einige Namen auf, bis Carina sie bat, einen davon zu wiederholen. Sie stolperte fast über ihre eigenen Beine, als sie fl uchtartig wieder an der Schwester vorbei aus dem Zimmer hinausrannte.
Picasso? Seit wann macht der denn wieder Nachtschichten?
4.
S tern drehte den Zündschlüssel so, dass die moderne
Audio anlage des Geländewagens mit Strom versorgt wurde. Das Abspielgerät schluckte die Diskette mit einem gierigen Sauggeräusch. Er achtete nicht mehr auf die Bewegungen auf der »Brücke« vor ihm. Robert fi xierte nur den Bildschirm und fühlte sich dabei wie ein Student, der seinen Namen nicht auf dem Aushang mit den bestandenen Examensklausuren fi nden konnte. Nur dass es bei dieser Prüfung hier um das Leben seines Sohnes ging. Oder, was wahrscheinlicher war, um seinen Tod.
Als sich das Bild aufbaute, dachte Robert zunächst, es würde sich nur um eine Kopie der DVD handeln, die er bereits kannte. Sie begann, wie die andere auch, mit den grünstichigen Aufnahmen der abendlichen Säuglingsstation. Wieder lag Felix in seinem Bettchen, wieder streckte er sein rechtes Fäustchen aus und spreizte seine winzigen Finger. Stern wollte sich abwenden und die Augen schließen, doch er wusste, wie sinnlos das war, weil sich das nachfolgende Standbild ohnehin auf ewig in seine Netzhaut eingebrannt hatte, und zwar von dem Moment an, als er es zum ersten Mal auf dem alten Fernseher in seiner Villa sehen musste: Felix’ regloser Babykörper mit den viel zu blauen Lippen und den ausdruckslosen Augen, die seinen Vater noch ein Jahrzehnt später anklagten, warum er den Tod nicht aufgehalten hatte. Stern faltete die Hände zum Gebet, biss sich auf die Zunge und wünschte sich, endlich aus diesem Alptraum aufzuwachen. Er war nicht gekommen, um seinen Sohn erneut beim Sterben zu beobachten.
Aber weswegen dann? Bist du wirklich so blöd und hast ge-
dacht, es gäbe eine andere Erklärung?
»Ja!«, gestand er sich ein und sprach seine Gedanken erstmals laut aus. »Felix lebt. Ich will nicht, dass sein Herz aufhört zu schlagen. Bitte, lass ihn nicht sterben. Nicht noch einmal.«
Es war mehr ein Flehen als ein Gebet, und obwohl er den Adressaten seiner verzweifelten Bitte nicht benannt hatte, schienen seine Worte dennoch etwas zu bewirken. Was ist das jetzt?
Die Abfolge der Bilder unterschied sich auf einmal gravierend von der ersten DVD. Plötzlich warf sich ein Schatten über das Bett. Die Kamera zoomte heran, und die Aufnahmen wurden körniger. Dann geschah das Unfassbare. Männerhände huschten ins Bild. Erst eine, dann eine zweite. Nackt und rauh griffen sie nach Felix und legten sich um seinen
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