Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
müssen in der Kanzlei der Zernikows liegen.«
»Und ich soll Georg Schäffling dazu bringen, dass wir einen Blick darauf werfen?«
»Einen Moment, bitte«, unterbrach Ekaterina. »Ihr solltet nichts überstürzen. Und keine voreiligen Schlüsse ziehen. Sind Sie sicher, dass die Pläne vertauscht wurden?«
»Hundertprozentig«, bekräftigte ich.
»Dann war dies der Grund des Überfalls.« Sie faltete die Hände auf dem Tisch und sah uns schweigend an. Ihre Anwesenheit tat gut. Sie holte die Dinge aus der Hitze der Spekulation hinunter auf den Boden der Tatsachen. »Wem ist damit geholfen, wenn
Sie nichts von diesem Raum wissen? Wem wird geschadet, wenn Sie etwas darüber wissen?«
Ich sah zu Marie-Luise und hob die Schultern. »Keine Ahnung.«
»Lehnsfeld natürlich«, antwortete Marie-Luise.
Ekaterina zog die Pläne zu sich herüber. »Im Krieg wurden viele Verstecke gebaut. Man müsste herausfinden, wozu dieses hier gedacht war.«
»Und ob es etwas mit Natalja zu tun hat«, sagte Marie-Luise. »Es gibt eine Verbindung. Ich spüre es. Ich rieche es. Da ist etwas, das nicht ans Licht kommen soll. Es hat einen Menschen das Leben gekostet, zwei weitere wurden angegriffen. Vielleicht solltest du mal mit deiner Staatsanwältin darüber reden.«
»Vielleicht sollten wir uns das Haus erst einmal ansehen?«, meinte ich.
Ekaterina nickte. »Eine gute Idee. Aber nicht mehr heute. Sie sehen etwas mitgenommen aus, Herr Vernau.«
Marie-Luise sah auf ihre Uhr. »Halb elf. Nimm mein Auto, und fahr nach Hause. Ich räume noch ein bisschen auf.«
»Wir haben morgen einen Prozessauftakt.«
Marie-Luise stöhnte auf. »Ich muss die Unterlagen suchen. Ich muss mich noch darauf vorbereiten. Wir haben noch gar nicht richtig darüber gesprochen!«
Ich beruhigte sie. Sobald wir die Akten gefunden hatten, würden wir uns noch einmal eine halbe Stunde zusammensetzen.
Ekaterina verabschiedete sich. Ich schluckte die doppelte Dosis Schmerzmittel und fing damit an, in meinem Büro die Schubladen wieder einzuräumen.
Wir hatten einige Stunden lang zu tun. Die stinkenden Bücher brachte ich erst mal in den Hof. Wir wischten den Flur und räumten die restlichen Bücher in die Regale. Es war kurz vor Mitternacht.
Dann erschien Kevin. Die Hände hatte er in die Hosentaschen
gesteckt, die Schultern hochgezogen. Er blieb im Flur stehen und sah in mein Zimmer.
»Ich hab gehört, was passiert ist«, sagte er. »Und Licht gesehen. Kann ich irgendwie helfen?«
Marie-Luise kam zu ihm und nickte ihm aufmunternd zu. »Hallo, Kevin, das ist eine gute Idee. Fang schon mal in der Küche an.«
»Moment«, sagte ich. »Er hat gekündigt.«
»Na und?«, fragte Kevin zurück. »Man wird ja wohl noch vorbeischauen dürfen.«
»Er ist weder sozial- noch unfallversichert. Er soll machen, dass er rauskommt.«
Marie-Luise stellte sich schützend vor Kevin. »Spinnst du jetzt völlig? Wir können wirklich jeden gebrauchen!«
»Nicht jeden. Kevin hat gekündigt, also gehört er nicht mehr zum Büro. Da ist die Tür.«
Kevin stand wie angewurzelt da. »Das kann er nicht machen«, knurrte er.
Marie-Luise schob einige herumliegende lose Blätter mit dem Fuß zusammen. Dann entschied sie sich für ihre größte Stärke: die Loyalität. Sie nickte. »Er hat Recht. Es tut mir leid.«
»Und? Was soll ich jetzt machen? Mitten in den Semesterferien? Mich nimmt doch keine Sau mehr! Ich hab schon überall herumtelefoniert.«
Es war mir klar, dass er nicht aus reiner Mitmenschlichkeit gekommen war. Ich setzte mich auf die Schreibtischkante und versuchte, gesund auszusehen. Aber ich nuschelte. Ich hatte Angst, mit der Zunge an meinen wackeligen Schneidezahn zu stoßen.
»Und da dachtest du, schau ich einfach mal vorbei. Heute komm ich, morgen geh ich. So läuft das aber nicht.«
Kevin blickte zu Boden. Er rang mit sich.
»Es tut mir leid. Es war einfach zu viel Stress die letzten beiden Tage.«
Marie-Luise sah ihn mit dem gleichen Blick wie ihre geschlachteten Seehundbabys an. Doch Mitleid machte aus Kevin noch keinen guten Jurastudenten.
»Du willst also was tun?«, fragte ich ihn. Kevin nickte.
»Gut. Dann möchte ich, dass du uns bis morgen Mittag etwas besorgst. Urteil und Urteilsbegründung eines Berliner Sondergerichts gegen Natalja Tscherednitschenkowa, ergangen am 14. November 1944.«
Ich schrieb die Daten auf einen Zettel und reichte ihn hinüber. Kevin nahm ihn langsam entgegen und kratzte sich in Zeitlupe hinter dem Ohr.
»Bis morgen?«,
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