Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
beigefügte Aktennotiz, dass das Urteil am nächsten Morgen durch den Strang vollstreckt worden ist.«
Er schwieg. Dann schloss er kurz die Augen. Marie-Luise strich ihm sanft über den Arm. Er setzte die Tasse ab. »Was ist mit der Frau? Warum wollt ihr das alles wissen? Sie ist schon lange tot. Nichts macht das wieder gut.«
Ich stand auf.
»Danke. Das war hervorragende Arbeit. Du bist wieder drin.«
Kevin lächelte matt. »Ich habe das Original in der Hand gehabt. Mit Unterschrift und allem Pipapo. Das Papier hat auf einem Tisch gelegen. Und zwei Meter davor stand ein Mädchen, das sterben musste. Zersetzung. Volksschädling. Sie war vierzehn. So alt, wie meine Schwester jetzt ist. Ich musste immer an meine Schwester denken, wie sie ihre bekloppten Superstar-CD’s hört und wie dämlich sie mit ihrer Zahnspange aussieht. Wenn das irgendjemand mit meiner Schwester gemacht hätte …«
»Du hast uns sehr geholfen.« Ich nahm das Blatt an mich. »Die Frau ist nicht tot. Sie lebt. Es geht um eine Plausibilitätsüberprüfung. Sie kämpft um eine Entschädigung aus dem Stiftungsfonds der deutschen Wirtschaft.«
»Und warum kriegt sie die nicht? Nach allem, was sie durchgemacht hat?«
Marie-Luise sah mich an, schwieg aber.
»Sie muss doch nur beweisen, dass sie nicht tot ist. Wo ist das Problem?«
»Das Problem«, sagte Marie-Luise langsam, »das Problem ist, dass es immer noch Menschen in Deutschland gibt, die nicht zu ihrer Verantwortung stehen. Sie waren keine Industriellen und keine Bauern, aber sie haben bei sich zu Hause Zwangsarbeiter beschäftigt. Als Haushaltshilfen und Kindermädchen. Manche von ihnen haben sich ehrlich und aufrichtig um eine Wiedergutmachung bemüht. Die meisten haben es vergessen. Und einige von den wenigen, die von den letzten Überlebenden um eine Bestätigung gebeten werden, weigern sich einfach, sie zu geben.«
»Arbeitet ihr da gerade dran?«
Marie-Luise nickte.
»Er auch?«
Sie nickte wieder. Kevin atmete tief durch und lehnte sich zurück. »Ich will da mitmachen. Auch ohne Geld. Zahlt mir was, wenn ihr könnt. Lasst es bleiben, wenn ihr nicht könnt. Ich will, dass diese Frau ihr Recht bekommt.«
Ich reichte ihm die Hand, und er nahm sie. Es war ein kurzer Händedruck. Er sah mir nicht in die Augen dabei. Er hatte Angst, dass ich bemerken würde, wie sein Stirnansatz rot wurde.
»Okay, dann geht es jetzt los.« Marie-Luise stand auf. »Ich denke, Kevin kümmert sich mal um Wilhelm. Mal ist er weg, dann wieder da. Also ist es an der Zeit herauszufinden, was es mit dem tapferen Frontoffizier so auf sich hat. Und wir haben noch etwas versäumt. Etwas sehr Wichtiges.«
Kevin und ich sahen sie an.
»Warum sind wir eigentlich nicht auf die Idee gekommen, Natalja selbst zu fragen?«
Die ganze Fahrt über zum Hackeschen Markt stellte ich mir diese Frage. Es war die natürlichste, einfachste Sache der Welt. Wenn wir wirklich wissen wollten, was sich damals ereignet hatte, dann mussten wir mit ihr sprechen. In ihrer Erinnerung lag der Schlüssel zu den Ereignissen, die noch heute, über sechzig Jahre danach, Verrat und Mord hervorriefen.
Ich hatte Mühe, einen Parkplatz für Marie-Luises Schlachtschiff zu finden, aber ich war froh, durch die Suche abgelenkt zu werden. In wenigen Minuten würde ich diesem unsympathischen Fettkloß gegenübersitzen. Ich musste mir eine Strategie ausdenken, mit der ich ihm seine Informationen entlocken konnte und er mir außerdem mit Kusshand eine Vergrößerung seines Abzuges zur Verfügung stellen würde. Das alles ohne die geringste Gegenleistung. Einfach würde es nicht werden.
Wir hatten uns im Cibo Matto verabredet. Der Bürgersteig war schmal, so dass die Tische nur in einer Reihe draußen standen. Ich hatte Glück. Gerade als ich ankam, erhob sich ein verliebtes Pärchen. Ich nahm am Tisch Platz und setzte mir die Sonnenbrille auf. Kurz vor zwei. Ich war im Vorteil. Ich war Erster.
So viele schöne junge Menschen. Sie trugen die ausgefallenste Mode und strahlten eine ungeheure Lebenslust aus. Weder am Kurfürstendamm noch Unter den Linden würde es eine junge Frau wagen, mit einem Hut vom Durchmesser eines Wagenrades über die Straße zu gehen. Die Frau trug ein eng anliegendes Kostüm und aberwitzig hohe Schuhe. Kurz blieb sie in den Straßenbahnschienen hängen, doch es glückte ihr gerade rechtzeitig, noch die andere Seite zu erreichen. Sie drehte sich um. Connie.
Sie winkte jemandem zu. Er musste in einem der Autos sitzen,
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