Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
Kapelle, das Büffet. Sigrun küsste die Botschaftergattin, oder besser gesagt, die Botschaftergattin küsste Sigrun. Sigrun und ich. Wir lächelten uns an.
Ich betrachtete das Foto genauer und suchte nach einem Anzeichen dafür, dass etwas zwischen uns nicht stimmte. Ich fand nichts. Wir standen Arm in Arm und sahen uns tief in die Augen. Unser Lächeln war echt, unsere Berührung vertraut. Zwei Stunden später war alles anders. Milla auf der Bahre des Notarztwagens. Ich über sie gebeugt, besorgt, Sigrun hinter mir, an die Seite gedrängt, eingefroren in diesem Moment der Ohnmacht und Angst.
Ich legte das Foto zur Seite. Verena von Lehnsfeld. Wunderbar. Der Ring glitzerte an ihrem Mittelfinger. In dieser Vergrößerung
war er ohne Zweifel wiederzuerkennen. Ich faltete das Foto zusammen und steckte es in die Anzugtasche.
Dann rief ich Ekaterina an und fragte sie, wie schnell man in die Ukraine kommen könnte.
»Als Deutscher? Sie müssen zur Botschaft, aber die hat heute schon geschlossen. Sie werden es morgen Vormittag versuchen, dann verpassen Sie die Maschine der Ucrainian Airlines und der Czech. Das heißt, Sie können erst am Sonntag den Direktflug der Ucrainian nehmen und sind gegen sechzehn Uhr dreißig in Kiew.«
Ich bat sie um ihr Menschenmöglichstes, und sie versprach, sich zu melden.
Kevin kam ins Zimmer. Er setzte sich auf die Fensterbank und drehte sich eine Zigarette.
»Schon mal was von Eupen-Malmedy gehört?«, fragte er und leckte das Papierchen an.
»Gehört ja, aber ich kann dir nicht sagen, was es bedeutet.«
Kevin betrachtete liebevoll die Zigarette zwischen seinen Fingern, strich sie noch ein wenig lang und glatt und zündete sie sich dann an. »Das ist ein belgisch-deutsches Grenzgebiet, um das es im Zuge des Versailler Vertrages einigen Zoff gegeben hat. Es war mal eine deutsche Rheinprovinz und Teil des Herzogtums Limburg. 1920 hat man es Belgien zugeschlagen. Muss wehgetan haben, denn 1940 hat es sich das Deutsche Reich wieder einverleibt.«
Er inhalierte tief und pustete in meine Richtung. Um ihm die Freude zu machen, wedelte ich symbolisch etwas mit der Hand.
»Weiter.«
»Wilhelm von Zernikow war dort stationiert. Genauer gesagt, in St. Veith. Er war da so etwas wie ein Generalbevollmächtigter. Wie dem auch sei, eines ist seltsam.«
Er paffte wieder und bestaunte dann seine Selbstgedrehte, als hielte er eine Cohiba in den Händen.
»Klär mich auf«, seufzte ich.
»Wilhelm von Zernikow gilt seit dem 3. September 1944 als vermisst. Nun verstehe ich nicht viel vom Zweiten Weltkrieg. Irgendwann hatten wir das ja mal alles in der Schule. Aber Ardennen-Offensive, Dünkirchen und Arnheim kenn sogar ich. Und ich bin Pazifist. Tatsache ist also, dass Brüssel und Antwerpen genau zum Zeitpunkt, als Wilhelm der Rätselhafte verschwand, von britischen Panzerverbänden eingenommen wurden. Eupen-Malmedy aber erst eine Woche später. Findest du es nicht auch total unwahrscheinlich, dass jemand zu so einem Zeitpunkt einfach mal verschwinden und in Berlin auftauchen kann? Und dass er dann wieder zurück in die Höhle des Löwen gegangen ist? Wilhelm von Zernikow ist am 18. Dezember 1944 in der Ardennen-Offensive gefallen.«
»Bravo. Du hast ein neues Hobby entdeckt?«
Kevin grinste. »Internet. Wer suchet, der findet. Der Zweite Weltkrieg für Anfänger, sozusagen. Mann, dass ich mich damit mal rumschlagen muss.«
Ich schrieb ihm etwas auf einen Zettel. »Da du gerade so gut in Übung bist, hätte ich hier noch einen Rechercheauftrag. Abel von Lehnsfeld. Geboren irgendwann um 1923/24. Ich will wissen, wo er im Krieg war und was er gemacht hat.«
»Sonst noch was?«, fragte Kevin und sprang sofort auf.
Ich reichte ihm den Zettel. »Das hast du großartig gemacht. Ich danke dir.«
Das Telefon klingelte, kaum dass Kevin hinübergegangen war.
»Dressler. Na, haben Sie meine Fotos erhalten?«
»Ja«, sagte ich gedehnt.
»Und? Ist Ihnen was aufgefallen?«
»Ehrlich gesagt nicht.«
Er schnaufte in den Hörer wie ein Walross. »Ach ja. Ist ja interessant.« Dressler brauchte einen Moment, um zu verarbeiten,
dass er dieses Mal den Kürzeren gezogen hatte. »Vielleicht sollte ich dem Gedächtnis mal auf die Sprünge helfen?«
»Ich bin nicht interessiert.«
Ich wollte auflegen.
»Köpenick«, kam es leise vom anderen Ende der Leitung.
Meine Hand, die schon über der Gabel schwebte, hielt inne. »Köpenick? Was meinen Sie damit?«
»Sie waren nicht zufälligerweise heute Nacht da
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