Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
schwer. Erstaunt musterte sie die leere Stelle. »Ich sollte sie alle abziehen. Aber ich tue es nicht. Sie erinnern nicht nur mich an seine Fehltritte. Auch ihn. Jeden Tag, jede Nacht. Ich habe bis heute keinen von ihnen abgelegt. Und keinen verziehen.«
Ich hielt ihre Hand und sah ihr stumm in die Augen. Es war ihr gelungen, mich zu erschüttern. Sie bemerkte es. Sie hatte zu viel von sich preisgegeben.
»Wollen wir?«, sagte sie etwas zu laut. »Ich glaube, es geht los.«
Ich ließ ihr den Vortritt. Ein paar Schritte weiter entdeckte ich
Utz, der sich leise mit zwei Security Guards unterhielt. Als ich dazukam, setzten sie wieder ihr Pokerface auf und sahen interessiert auf das bunte Treiben.
Utz schaute sich wohlgefällig um. Der Garten hatte sich gefüllt, die Gäste spazierten im Abendlicht über den Rasen. Walter war nirgendwo zu sehen. Vermutlich hielt er oben die Hand der Freifrau ganz, ganz fest. Das musste erst einmal verkraftet werden. Hundert Jahre feinste englische Züchtung.
Die weiß geschürzten Mädchen schleppten moosgefüllte Terrakottablumenkästen vor sich her, in die irgendein dekadenter Koch Spieße gesteckt hatte. Scampi, Datteln mit Speck, Sushi, Krabbenbällchen. Ich sah, wie Aaron einer gertenschlanken Hostess nicht mehr von der Schürze wich.
»Hervorragend. Wirklich hervorragend.« Dressler stand hinter mir und schmatzte mit vollem Mund. Er hatte ein Mädchen mitsamt Blumenkasten nur für sich reserviert.
»Freut mich, wenn es Ihnen schmeckt.« Ich wollte an ihm vorbei, aber er schob mir seinen immensen Bauch in den Weg.
»Hat sicher ’ne Menge gekostet. Zweihundert Gäste, Champagner, Horsd’œuvres. Gibt es eigentlich noch was Warmes?«
Ich wies auf die Zelte am Ende des Parks. »Wenn es noch bis nach den Reden Zeit hat?«
»Sicher, sicher.« Er steckte sich eine Pflaume im Speckmantel in den Mund und schob ein Thunfisch-Sushi hinterher. »Woher kommt eigentlich die ganze Kohle? Der Kasten fällt fast auseinander, einen Gärtner könnt ihr euch auch nicht leisten, aber feiern. Feiern könnt ihr.«
»Bitte sehr«, sagte die Hostess und hielt mir den Kasten entgegen. Ich schüttelte den Kopf. Sie wollte sich entfernen, aber Dressler hielt sie am Ärmel fest und pflückte noch eine Hand voll Spießchen.
»Vielleicht vergessen Sie einen Abend Ihre Sorgen und feiern einfach mit?«, schlug ich vor. Ich hätte ihm am liebsten Hausverbot
erteilt. Sigrun hatte ein hervorragendes Verhältnis zur Presse. Aber dieser Mann ging eindeutig zu weit.
Dressler ließ die abgegessenen Holzstäbe auf den Rasen fallen. »Man wird ja wohl mal fragen dürfen. Oh, Entschuldigung.« Er steckte die restlichen Spieße der verdutzten Hostess in den Kasten zurück. Dann zückte er die Kamera und hielt Sigrun, den Regierenden Bürgermeister sowie den Herausgeber seiner Zeitung im Bild fest.
»Schöne kleine Feier!« Der Regierende Bürgermeister hob sein Champagnerglas. »Sie werden mir verzeihen, wenn ich in ein paar Minuten aufbreche.«
»Immer im Dienst.« Utz nickte bewundernd. »Aber bis zu unserer kleinen Rede bleiben Sie doch noch. Es gibt Neuigkeiten.«
Beide schmunzelten. Wir entdeckten Sigrun an den Lippen eines bekannten Kunstsammlers, der im engen Kreis mit leiser Stimme unbezahlbare Tipps gab, in welchen Künstler man jetzt unbedingt investieren müsste.
»Ich denke, jetzt sind alle da.«
»Die Afrikaner«, flüsterte Sigrun mir auf dem Weg zum Podium zu. »Die sind so was von im Kommen! Ich hab dir gesagt, es war ein Fehler, dass wir nicht zur Documenta gefahren sind.«
»Du hast den Katalog«, erinnerte ich sie.
»Aber da habe ich doch nie reingeschaut. Und jetzt stehe ich da, und alle waren in Kassel, bloß ich blöde Kuh …«
»Du musstest ein neues Kitagesetz durchsetzen, Berlins Schulen sanieren und vierundzwanzig Leihbüchereien vor der Schließung bewahren.«
»Fünfundzwanzig.«
Ich schob sie die drei Stufen hinauf. Das Streichorchester hatte sein Repertoire von Klassik auf Swing modernisiert und intonierte nun einen improvisierten Tusch. Utz ging auf das Mikrofon zu und pustete hinein. Er war bis in den letzten Hibiskuszweig zu hören.
»Meine sehr verehrten Damen und Herren.« Er machte eine kurze Pause. Das Stimmengemurmel hörte auf. Alle wandten sich dem Podium in der Mitte des Gartens zu. Utz breitete die Arme aus. »Liebe Freunde!«
Frenetischer Applaus. Er drehte sich zu uns um und nickte Sigrun zu. »Achtunddreißig Jahre. Meine Tochter. Würde es nicht im
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