Das kleine Reiseandenken
Schlafanzügen. Seit Ingrid ins Haus gekommen war, wußte Inge nicht mehr, was es hieß, einen Knopf anzunähen oder eine geplatzte Naht auszubessern.
„Wie soll das große Bild heißen, Inge?“
„Das Mädchen und der Pudel, dachte ich. Und wenn es nach meiner Nase geht, dann kommt es zum Herbst auf die Ausstellung. Und dann…“ Mit einemmal stand Inge auf, packte Ingrid um die Schultern und wirbelte sie herum. „Dann verkaufen wir es und kriegen einen großen Haufen Geld dafür, und dann…“
„Ja, was dann?“
„Dann denken wir uns etwas besonders Schönes aus. Das Geld verbrauchen wir zusammen, wir zwei; darauf kannst du dich verlassen!“
„Ach Inge, schon jetzt freu ich mich schrecklich drauf!“ Rrrrrrrr! Es war die Türglocke. Ein Bumms auf den Fußboden. Post. Inge räusperte sich und gab sich einen Ruck, damit ihre Stimme gleichmäßig und ruhig klänge: „Brief an dich, Ingrid, aus der Stadt.“
Das konnte nur eins bedeuten. Ingrid öffnete den Brief mit zitternden Händen:
Liebe Ingrid,
ich bin aus dem Krankenhaus entlassen und wieder zu Haus und erwarte dich Dienstag nachmittag.
Mit Gruß
Tante Agathe
Sie reichte Inge den Brief hinüber, blieb ganz still stehen und sah sie hilflos an. Sie fragte nicht, sagte gar nichts. Aber sie kannten einander jetzt schon so gut, die große und die kleine Ingrid, daß die Große genau wußte, was die Kleine dachte:
Warum sagt sie nicht mit einer Silbe, daß ich willkommen bin? Warum sagt sie nichts darüber, daß ich Inge grüßen soll, die so fabelhaft zu mir gewesen ist? Warum spricht sie nicht ein Wort des Bedauerns aus, daß sie mich an jenem Abend nicht auf dem Bahnhof hat abholen können? Inge brach als erste das Schweigen.
„Ja, ja, mein Kind. Dann müssen wir deine Sachen zusammenpacken. Ich werde dich furchtbar vermissen. Es ist nur gut, daß wir in derselben Stadt wohnen. Du weißt, du kannst kommen, so oft du willst. Ich werde dich auch bestimmt mal besuchen – liebes, kleines Reiseandenken!“
„Ich warte so lange, bis aufgemacht ist“, sagte Inge.
Sie hatte Ingrid bis ins Haus der Tante gebracht. Jetzt stand das Mädchen vor einer dunkelbraun gestrichenen Wohnungstür in einem halbdunklen engen Gang. Die Wohnung lag im Erdgeschoß. Das Haus wirkte düster und beengend.
„Kopf hoch, mein Mädelchen! Schau nicht so ängstlich aus. Ich komme bald und besuche dich.“
Inge trat zur Haustür zurück. Dort blieb sie stehen und lauschte.
Ingrid klingelte. Sie wartete – endlich hörte sie Schritte von drinnen, und die Tür wurde geöffnet.
Ein kleines Geräusch von der Haustür her zeigte ihr an, daß Inge gegangen war.
Ingrid streckte die Hand aus. Ihre Stimme war klein und zaghaft, als sie die Gestalt anredete, die sie nur undeutlich in dem Halbdunkel des Flurs sah. „Guten Tag. Ich bin Ingrid.“
„Ja, gewiß. Das ist mir klar. Willkommen. Du hättest auch durch den Laden gehen können, dann hätte ich nicht hier hinten aufzumachen brauchen. Na ja, ist nun einerlei. Hast du noch mehrGepäck? Nur den Koffer? Na schön, stell ihn hier rein. Du hast wohl schon Frühstück gegessen? Ach je, da kommt Kundschaft – ich muß in den Laden.“
Tante Agate schlurrte zurück und verschwand durch eine Tür, die sie hinter sich zumachte. Ingrid blieb in dem kleinen, engen, dunklen Wohnungsflur stehen, ratlos und unschlüssig. Sie hängte ihren Mantel an einen Haken, nahm den Koffer – wo sollte sie ihn doch gleich hinstellen? Sie blickte sich um. Es gab hier zwei – nein, drei Türen außer der zum Laden. Sie machte die eine einen Spalt weit auf und sah eine Stube, vor deren Fenstern die Vorhänge herabgelassen waren. Das Zimmer war klein und mit viel zu großen Möbeln vollgestellt. Ein Sofa, zwei riesengroße Sessel, ein runder Tisch mit geschnitzten Füßen. Außerdem ein Regal und ein riesiger Schrank – aber kaum Platz, um sich dazwischen bewegen zu können. Das Zimmer war ungelüftet und roch nach Staub.
Auf der anderen Seite des Flurs lagen eine kleine Küche und ein Schlafzimmer, das von einem einzigen großen Bett fast ausgefüllt war. Hier stellte Ingrid den Koffer ab. Dann blieb sie stehen und horchte. Aus dem Laden drangen Stimmen zu ihr, es wurde mit Geld geklimpert. Die Ladenglocke schellte, und alles wurde still. Der Kunde war gegangen.
Sie öffnete die Tür zum Laden. An einer Wand standen hohe Regale mit Zigarrenkisten, Zigaretten und Tabak, außerdem Wein- und Likörflaschen. Unter der Glasplatte des
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