Das kleine Reiseandenken
für ihre Nachbarn interessieren.
Im Blumenladen kaufte sie ein paar Anemonen, dann begab sie sich zum Krankenhaus.
„Agate Jespersen? Moment mal – vorigen Mittwoch – mal sehen – ja, auf der Station für Innere Medizin, Zimmer vierundzwanzig.“
Es war nicht leicht, sich in dem großen Krankenhauslabyrinth zurechtzufinden. Aber endlich fand Ingrid das Schild mit „Indre-medicin“ und ging die Treppe hoch. Da oben in einem langen, weißen Korridor kam ihr eine Krankenschwester entgegen.
„Kann ich Ihnen helfen?“ fragte sie freundlich, als sie Ingrids suchende Augen sah.
„Ja, bitte. Zimmer vierundzwanzig, Frau Jespersen.“
„Frau Jespersen? Ach, das ist aber schön, sie hat noch keinen einzigen Besuch gehabt. Aber bleiben Sie nicht zu lange, Frau Jespersen ist schwer krank. Außerdem bedrückt sie etwas, ich weiß nicht was, aber sie ist so nervös, kommt gar nicht richtig zur Ruhe und antwortet nicht, wenn wir fragen. Vielleicht spricht sie mit Ihnen! Hier, diese Tür.“ Die nette Schwester machte eine der weißen Türen auf und ging vor Ingrid in das Zimmer.
„Besuch für Sie, Frau Jespersen!“
Es war ein Dreibettzimmer. Die Schwester zeigte mit dem Finger auf das Bett am Fenster. Dort drehte sich ein Kopf, langsam, und Ingrid erkannte Tante Agates Gesicht. Aber wie war es verändert! Eingefallen, blaß, müde, mit einem Ausdruck, den Ingrid nie bei ihr gesehen hatte.
Ein erwachsener, erfahrener Mensch hätte gesagt: „Sie ist schon vom Tode gezeichnet.“ Aber Ingrid war jung und unerfahren. Sie sah nur, daß Tante Agate sehr verändert war. „Guten Tag, Tante Agate. Ich bin es – Ingrid!“ Da richtete die Patientin die Augen auf sie, jetzt kam Leben in ihren Blick. „Ingrid! Was machst du in Kopenhagen?“ Die Stimme war leise, beinahe nur ein Flüstern. „Ich begleite nur Inge Ger… Inge Skovsgaard“, antwortete Ingrid. „Ich hörte zufällig im Laden, daß du krank bist, Tante Agate. Wie geht es dir?“
Sie antwortete nicht direkt. Sie starrte Ingrid unentwegt an, dann flüsterte sie: „Ingrid… du besuchst mich… ich dachte, du wärest in Deutschland… danke für deinen Brief… geht es dir gut?“ Es kam stoßweise, mit Pausen. „Ja, Tante, es geht mir sehr gut. Ich wollte nur fragen, ob ich vielleicht etwas für dich tun kann?“
Tante Agates Augen bekamen einen neuen Ausdruck, einen Ausdruck von Entschlossenheit. „Ja, du kannst. Nimm… im Schub… meine Schlüssel…“ Ingrid öffnete den Nachttischschub. Da lagen ein Portemonnaie, ein Personalausweis und ein Schlüsselbund.
„Zu Hause… Wäscheschrank… ganz unten… unter der Bettwäsche…“ Das Flüstern wurde leiser, Ingrid mußte sich sehr anstrengen, um es zu verstehen.
„Ja, Tante. Unter der Bettwäsche. Liegt da etwas, was ich dir bringen soll?“
„Großes graues Kuvert. Dickes Kuvert. Bring es mir. Bald. Es eilt. Bald. Ingrid, bald!“
„Ja, Tante Agate. Ich fahre direkt hin, sofort.“
„Keinem Menschen was sagen“, flüsterte Tante Agate. „Versprich!“
„Mein Ehrenwort, Tante Agate.“
„Dann geh. Komm bald wieder. Es eilt.“
Ingrid stand auf, verabschiedete sich. Sie war halbwegs zur Tür, als sie noch einmal das heisere Flüstern vernahm: „Fräulein… Skovsgaard… soll… mitkommen…“
„Ja, Tante Agate. Sie wird mitkommen.“
Draußen auf dem Korridor traf Ingrid wieder die junge Schwester. Ingrid stotterte die notwendigen dänischen Worte zusammen und fragte, wann sie wiederkommen dürfe, sie sollte was Wichtiges für Frau Jespersen erledigen.
„Warten Sie einen Augenblick, ich werde die Stationsschwester fragen.“
Ingrid wartete in dem weißen Korridor. Da kam die junge Schwester zurück, von einer älteren begleitet.
„Sie können heute abend zwischen sieben und halb acht kommen. Sagen Sie unten beim Pförtner, daß Schwester Johanna Sie herbestellt hat.“
„Frau Jespersen ist wohl sehr krank?“ fragte Ingrid.
„Ja. Sie ist sehr krank. Wenn Sie heute abend kommen, möchte ich gern mit Ihnen sprechen. Wenn Sie mich auf der Station nicht sehen, fragen Sie bei einer Schwester nach mir. Stationsschwester Johanna.“
„Ja. Vielen Dank, Schwester Johanna!“
Der große Frieden
Mit seltsamen, gemischten Gefühlen machte Ingrid die Tür zu Tante Agates Wohnung auf. Wie hatte sie diese Wohnung gehaßt. Sie war voll bitterer Erinnerungen. Da, im Wohnzimmer, hatte sie geschlafen, ohne das Fenster aufmachen zu dürfen. Hier, in derKüche, hatte sie
Weitere Kostenlose Bücher