Das Kloster der Ketzer
eingenommen, während einer der jüngeren Mönche von einer kleinen Kanzel aus die bei Mahlzeiten obligatorische Tischlesung vornahm. Er las mit recht monotoner Stimme erst aus dem Heiligenkalender vor, dann einen Abschnitt aus der Ordensregel des heiligen Benedikt und schließlich eine längere Textstelle aus der Bibel.
Ein Großteil der Mönche sprach kräftig dem Wein zu, der in großen, dunklen Steinkrügen die Runde machte, insbesondere Bruder Sulpicius und Bruder Vitus, der Cellerar mit dem spitzkantigen Kinn, ließen sich die süffige Kost aus den bauchigen Krügen schmecken.
Nach dem Essen erhielt Sebastian vom Novizenmeister die Erlaubnis, Notker zum Infirmarius zu begleiten, der zu den
wenigen zählte, die sich beim Essen mit Wasser begnügt hatten, und der nach dem Dankgebet sofort aus dem Refektorium geeilt war.
Der Kräuterbruder Eusebius war eine hagere, lang aufgeschossene Gestalt unbestimmten Alters mit einem leicht schielenden Blick. Eine hüfthohe Mauer aus aufgeschichteten Feldsteinen umschloss seinen Kräutergarten, der hinter dem Konventsgebäude neben dem Friedhof lag und an die rückwärtige Klostermauer grenzte. Innerhalb dieses Geländes befand sich ein kleines Steinhaus, in dem er einen Großteil seiner getrockneten Gräser und Pflanzen aufbewahrte und allerlei Kräutermischungen, Salben und Tinkturen herstellte. Dort trafen sie ihn an.
»Bruder Scriptoris schickt mich zu Euch. Ich soll Euch um einen Kräutertee bitten, der... der mein leicht fiebriges Gemüt, wie er es nennt, beruhigen und mir einen gesunden Nachtschlaf verschaffen soll«, teilte Notker ihm verlegen mit. »Könnt Ihr mir mit solch einem Tee helfen?«
Bruder Eusebius nickte verständnisvoll. »Da weiß ich eine Remedur, auf deren gute Wirkung Verlass ist. Ein gut Teil Kamille, eine Spitze Salbei und noch einige andere Zutaten sind schnell zu einem hilfreichen Tee gemischt, der Euch bei regelmäßiger Einnahme von Euren Beschwerden befreit, Bruder Notker«, sagte er leicht lispelnd.
Der Kräuterbruder nahm nun aus einer der vielen Stellagen, die mit zahlreichen, gut verschlossenen Holzkästen, bauchigen Flaschen, kleinen Phiolen und schweren Steingutgefäßen voll gestellt waren, mehrere Behälter, die er auf den Tisch vor dem Fenster stellte. Dort fanden sich neben einer gewöhnlichen Kaufmannswaage sowie einer sehr kleinen Waage mit gerade mal dukatengroßen Schalen und einer langen Reihe von Gewichten, von denen das kleinste kaum mehr als eine Messerspitze
Mehl wiegen mochte, mehrere verschieden große Mörser und Pressen sowie Gerätschaften zum Aufkochen, Sieden und Destillieren von Säften, Ölen und Konzentraten.
Sebastian war fasziniert von all den vielen Tiegeln, Töpfen, Glasbehältern, Kästchen und irdenen Behältern, auf die sein Blick überall fiel, sowie von den langen Reihen gebündelter Trockenkräuter, die von der Decke herabhingen und den Raum mit einem intensiven Duft erfüllten. Er kam sich vor, als hätte er das Labor eines Alchimisten betreten, der in diesem kleinen Steinhaus auf der Suche nach dem Stein der Weisen geheimnisvolle Experimente vornahm.
Sein Staunen blieb nicht unbemerkt, und Bruder Eusebius erwies sich als freundlicher Mann, dem es offensichtlich Vergnügen bereitete, ihm die Herkunft und Wirkung einiger seiner Kräuter, Wurzeln und Beeren zu erklären, nachdem er die Kräutermischung für Notkers Tee unter gewissenhaftem Abwiegen der einzelnen Bestandteile in eine kleine Holzdose gekippt und ihm die nötige Dosierung beim Aufbrühen erklärt hatte.
Einige der kleineren Steingutbehälter im obersten Fach eines der Regale weckten ganz besonders Sebastians Interesse, trugen sie doch neben einer lateinischen Aufschrift auch noch das grobe Bild eines Totenkopfes.
»Sind das giftige Substanzen, die Ihr darin aufbewahrt?«, fragte er voller Ehrfurcht vor so vielen Geheimnissen, die ihn in diesem kühlen Raum umgaben.
Bruder Eusebius nahm eines der Gefäße aus dem Fach. »Du hast ebenso Recht wie Unrecht«, sagte der Mönch mit einem feinen Lächeln. »Das Wunder von Gottes Schöpfung findet sich auch in den kleinsten seiner großartigen Werke, und zu denen zählt die Vielfalt der Gewächse. Hier zum Beispiel haben wir das Aconitum napellus , dir vermutlich besser bekannt
unter dem Namen Blauer Eisenhut, neben dem Schierling eine der gefährlichsten Giftpflanzen. Die tödliche Dosis dieser Droge liegt bei der winzigen Menge von zwei Gramm. Allein schon das Pflücken kann gefährlich
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