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Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)

Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)

Titel: Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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beugt sich aus dem Fenster, und Uropa hüpft über die Vesturgata, beginnt einen seltsamen, heißen Tanz. Uroma steht am Fenster. Sie ist schön wie eine Offenbarung, sie duftet wie ein Berghang voller Heidekraut. Und Urgroßvater tanzt, stampft mit den Fersen auf die Straße, die vor lauter Leidenschaft glühend heiß wird und etwas flüstert, um die Nachbarstraße neugierig zu machen.
    »Jetzt komme ich und fress dich auf«, schreit Urgroßvater zu den wundervollen siebzehn Jahren hinauf.

Teil II

6
    Meine Existenz verdankt sich einem einzigen Satz. Acht Wörtern, die an einem frühen Morgen im Januar des Jahres 1959 in einer Küche in Skaftahlicð geäußert wurden. Ein junger Mann hatte seine Kellerwohnung verlassen und strebte der Kreuzung der beiden Straßen Skaftahlicð und Langahlið zu. Er ging an einem kleinen Mehrfamilienhaus vorüber, meine Großmutter sah gerade aus ihrem Küchenfenster in der ersten Etage und murmelte den Satz, auf den alles zurückgeht: »Dieses arme Mann, hvorfor ist ihm so kalt?«
    Großmutter ist Norwegerin. Sie ist vielleicht nicht meine wirkliche Großmutter im Sinne einer Blutsverwandtschaft, aber das spielt natürlich keine Rolle. An jenem Januarmorgen lebte sie seit fünfzehn Jahren in Island und mischte ihr Isländisch immer noch so kräftig mit Norwegisch, dass eine eigene Sprache dabei herauskam.
    An dieser Stelle muss betont werden, dass es keineswegs Großmutters Gewohnheit ist, am Fenster zu stehen und die Straße zu beobachten. Vielmehr werden ihre Hände nervös, sobald sie einmal eine Arbeit weglegen. Sie stricken Wollpullover von der gleichen Art wie ihr Akzent, eine Mischung aus Isländisch und Norwegisch. Die Pullover verkaufen sich gut, Großmutter kommt den Aufträgen kaum nach. Sie vertritt die Meinung, aus dem Fenster zugucken sei ein Zeichen von Faulheit. Sie sagt, die Küchenfenster in Reykjavik seien voller Frauen, die keine Lust hätten zu arbeiten, und in der Hoffnung aus dem Fenster gafften, jemanden in einen Tratsch verwickeln zu können. Doch an diesem eigentlich recht milden Januarmorgen platziert sie das Schicksal, der Zufall oder sonstwas ans Küchenfenster ihrer Wohnung, und sie sieht einen jungen Mann so fröstelnd mit hochgezogenen Schultern vorübergehen, dass ungewohnt mütterliche Gefühle in ihr aufsteigen. »Dieses arme Mann«, murmelt sie, »hvorfor ist ihm so kalt?« Am Küchentisch sitzt eine junge Frau und schreibt einen Brief. Sie blickt auf. Deswegen gibt es mich.

Denk daran
    Es ist ein Januarabend des Jahres 2002. Durch das Fenster dringt das Brausen des einzigen Stroms, den ich heutzutage noch kenne, es ist der Verkehrsstrom auf dem Vesturlandsvegur. Es ist spätabends, und über meinem Kopf spannt sich der Nachthimmel mit seiner Unzahl von Sternen. Ich weiß, dass sie mir etwas Wichtiges mitteilen wollen, und damit meine ich nicht Schönheit, Distanz oder Zeit, vielmehr geben mir die Sterne eine Orientierung, zeigen mir den Weg und retten mich, sollte ich mich verirren. Da oben steht der Große Wagen, und wenn ich seine Hinterachse verlängere, finde ich den Polarstern. Er ist der Stern, nach dem meine Vorfahren segelten, so entdeckten sie die Insel, auf der ich heute stehe. Und da ist das Siebengestirn. Jetzt weißt du genau, wo Norden und wo Südosten ist. Denk daran, wenn du dich verirrst!
    Doch was für ein Trost ist es schon, dass dir ein paar Lichtpunkte am finsteren Himmel den Weg zeigen können? Sie leiten doch nur deine Füße. Es ist gut, einen Kompass in der Tasche zu haben, und noch besser, auch mit ihm umgehen zu können. Aber was hilft dir ein Kompass, wenn es keine Richtungen mehr gibt?

Sie verwandelte Worte in Vögel
    Die junge Frau, fast noch ein Mädchen, die dort am Küchentisch sitzt und einen Brief schreibt, ist meine Mutter. Den Brief schreibt sie an ihre Schwester in Prag. Sie schreibt: »Liebe Schwester«, und berichtet dann von den Wochen, in denen sie als Smutje auf einem Heringskutter gearbeitet hat. Sie ist gerade erst mit einem fingerdicken Bündel Geldscheine an Land zurückgekehrt und schreibt: »Davon können wir uns in Prag bestimmt ein schönes Leben machen. Trotzdem werde ich mich nach dir richten und erst im Frühling kommen. Stattdessen plane ich, zwischenzeitlich nach Westen in die Fjorde zu gehen, im Fisch zu arbeiten und so unseren Luxus in Prag noch zu steigern. Liebe Schwester, es sind jetzt fünf Jahre her, seit wir uns das erste Mal begegnet sind, denn natürlich erinnern wir uns nicht

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