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Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)

Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)

Titel: Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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mehr an unsere ersten gemeinsamen Kinderjahre.«
    Diese junge Frau, die sich viel später auf wundersame, aber ganz natürliche Weise in meine Mutter verwandeln sollte, ist im Osten aufgewachsen, wie wir hier sagen. In einer imposanten Gegend, über der ein weißer Koloss thront, den man Gletscher nennt. Dorthin kam sie im Alter von zwei Jahren, nachdem ihre Mutter sie und ihre erst drei Monate alte Schwester verlassen hatte. Sie war die Kellertreppe zur Solvallagata hinaufgegangen und verschwunden. Die Schwester kam zu einem kinderlosen Ehepaar in der Weststadt von Reykjavik, ruhigen Leuten, die nie wegfuhren und kaum einmal die Laune wechselten. Vielleicht hatte genau das diese innere Unruhe in ihr ausgelöst, denn sobald sie sechzehn geworden und nach Prag gegangen war, hielt sie es nie länger als ein halbes Jahr an einem Ort aus. Meine Mutter aber wurde in den Osten gegeben. Einmal habe ich versucht, in der Nähe des Hofs, auf dem sie aufwuchs, zu übernachten. Ich lag die ganze Nacht wach und lauschte dem unterdrückten Stöhnen der Berge unter dem weißen Giganten. Ich stand auch unter ihrem Fenster und sah mich um, betrachtete das Land, das vierzehn Jahre ihres Lebens barg. An diesem Ort sah sie das Gras wachsen, hörte das Summen der Fliegen und das Knistern in den Sternen. Hier war es, wo sie Wörter in Vögel verwandelte und auffliegen ließ, um Gott zu suchen. Hier wuchs sie auf, erwachte zu Sinn und Verstand, wie es heißt. Irgendjemand hat sie geküsst, irgendjemand hat geweint, als sie mit sechzehn abreiste, mit allem, was sich im Leben eines Mädchens zwischen zwei und sechzehn so ansammelt. Eine Sechzehnjährige wirkt manchmal wie ein Ausrufezeichen in der Zeit.

Von den Ostfjorden und der unerträglichen Schwere des Zweifels
    Wer beschreiben will, wie sich seine Eltern kennen lernten, lässt sich auf ein riskantes Unterfangen ein. Das Dasein eines jeden Menschen scheint von derart vielen Zufällen untergraben zu sein, dass eine einzige Handbewegung genügt, um alles umzustürzen. Eine Sache ist es, dies als unterschwelligen Verdacht zu hegen, eine ganz andere, ihn an die Oberfläche der Sprache zu zerren. Dann ist es nämlich, als würden sich überall Sprünge und Risse unter einem auftun. Doch wie dem auch sei, Großmama murmelt jedenfalls ihren Satz, meine Mutter steht auf und geht ans Fenster, der junge Mann verschwindet um die Ecke. Vierundzwanzig Stunden später nimmt er wie gewohnt den gleichen Weg die Straße hinab, als ihn von irgendwo über ihm eine weibliche Stimme ereilt, die sagt: »Heute Abend zeigen sie im Austurbæjar-Kino den Glöckner von Notre-Dame. Ich bin um neun am Kassenhäuschen. Ich lade dich ein.«
    Der junge Mann ist in den Ostfjorden geboren und aufgewachsen, wo eine Unzahl von Fjorden ihre Mündungen dem Meer öffnet, und es erschreckt ihn ganz gehörig, schon am frühen Morgen derart angesprochen zu werden. Verwirrt blickt er sich um. Dann schaut er nach oben, ungefähr in dem Moment, in dem die Stimme »… lade dich ein« sagt. Er sieht gerade noch ein Gesicht, hat es in seinem Kopf aber noch nicht einmal ganz zusammengesetzt, da schließt sich oben das Fenster, und er steht wieder allein auf dem Bürgersteig von Skaftahlicð.
    Eine Viertelstunde später packt er seine Maurerkelle, schultert einen Sack Zement, hält auch noch den Vorschlaghammer, sucht nach dem Meißel, und ein neuer Arbeitstag beginnt.
    »Du bist heute ein bisschen neben der Kappe, was?«, wundert sich der Meister in der Frühstückspause, und der Junge aus dem Osten murmelt etwas von unruhigem Schlaf, was eine glatte Lüge ist, denn er hat blendend geschlafen, aber da war diese Stimme und da war dieses Mädchengesicht, das verschwunden ist. Wie hat es eigentlich ausgesehen? Und wer war diese Frau?
    Aber so war es nun mal: Wie sehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht, sich dieses Gesicht in Erinnerung zu rufen. War sie dunkelhaarig, die Nase klein, winzig wie bei einem Filmstar?
    In der Mittagszeit denkt er: Nein, Blödsinn, sie ist sicher rothaarig, hat langes, rotes Haar.
    Nach zwei, als der Junge aus dem Osten eine Schubkarre mit zähflüssigem Zement vor sich her schiebt, ist sie wieder brünett, aber kein Mädchen mehr, sondern eine Frau um vierzig, was ihm ziemlich alt vorkommt. Ja, ein über vierzig Jahre altes Weib, womöglich mit Stangenfieber. Er fühlt, dass ihn das erregt. Warum sollte sie sonst einen ihr völlig fremden Mann ins Kino einladen? Schon in aller Frühe und auf diese

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