Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)
vergehen.
Sie wohnen noch immer in einem Keller.
Wenn auch nicht mehr in jenem Loch mit den feuchten Wänden; die neue Wohnung ist heller und geräumiger. Sie liegt in der Óðinsgata und besteht aus einem Zimmer für die Kinder und einem weiteren Raum, der alles andere zugleich ist: Küche, Schlafzimmer, Wohnzimmer. Sie haben inzwischen drei Kinder, das jüngste wieder ein Mädchen, das seiner Mutter ähnlich sieht, die gleiche klare Stirn, die dunklen, manchmal düsteren Augen und die hellen Arme. Urgroßvater beginnt wieder zu arbeiten, wenn auch nur halbe Tage. Mehr schafft er kaum. Sein letzter Alkoholexzess hat ihn so mitgenommen, körperlich natürlich, vor allem aber ist er ihm derart aufs Gewissen geschlagen, dass er einfach den halben Tag zu Hause sein muss bei den Kindern, damit er ihre Gesichter beobachten und ihre Atemzüge hören kann. Ein paar Monate nach der Geburt des kleinen Mädchens hat auch Urgroßmutter für vier Stunden täglich ihre Arbeit in der Wasch- und Nähstube wieder aufgenommen. Die Verantwortung, die Urgroßvater dadurch bei der Betreuung der Kinder zufällt, wirkt besser als mehrere Entziehungskuren. Manchmal geht er Gisli besuchen, manchmal kommt der zu ihm. Dann sieht er Urgroßvater dabei zu, wie er der Kleinen die Windeln wechselt, sie in den Schlaf summt oder ihr den Bauch streichelt, wenn sie weint und untröstlich ist. Gemeinsam regen sich die beiden Freunde über eine mögliche Personalunion mit Dänemark auf, über den neuromantischen Einar Benediktsson oder über die Kleingeisterei der Reykjaviker.
»Du bist ein Glückspilz!«, ruft Gisli einmal, als Urgroßvater wieder einmal die Kleine beruhigt hat, die schließlich auf seiner Schulter eingeschlafen ist.
Glücklich? Uropa wälzt das Wort im Mund herum, als wolle er ihm nachschmecken. Ja, wahrscheinlich ist er glücklich, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben, abgesehen von einem Sommer in der Vesturgata, aber das war damals vielleicht eher ein Rausch als Glück. Früher einmal hätte man ihm zweimal sagen müssen, dass äußere Ereignislosigkeit für ihn eine glückliche Zeit bedeuten konnte.
»Wein? Weiber?«, fragt Gisli.
Ach, der Sprit ist kein Problem, aber mit den Weibern, das sieht schon anders aus … Denn mittlerweile braucht Urgroßvater eine einigermaßen passable Frau nur noch anzusehen, und schon gerät in seinem Kopf alles Mögliche in Bewegung, selbst wenn er sich noch so dagegen wehrt. »Ich muss mich schwer zusammenreißen«, sagt er und streichelt dem schlafenden Kind über den Rücken. »Ja, ich muss mich ungeheuer zusammennehmen, um nicht hinzugucken, ja, um ihnen nicht sogar nachzustarren. Du weißt doch, wie ihre Hüften schwingen, der Busen, du kannst dir genau vorstellen, wie es ist, ihn anzufassen, Teufel auch! Manchmal zuckt mir förmlich die Hand vor Verlangen nach Berührung, mag mir auch noch so das Gewissen schlagen. Ich würde viel dafür geben, das los zu sein.«
In der Wasch- und Nähstube wird viel getratscht, und es kommt so weit, dass die anderen Frauen die Geschichten, die über Urgroßvater im Umlauf sind, nicht mehr für sich behalten können. Weibergeschichten. Zuerst sind es bloß ein paar unachtsame Bemerkungen, die abseits vom Thema in einer Unterhaltung fallen. Bemerkungen, die an und für sich harmlos sein können, aber auch brandgefährlich. So tasten sich die Frauen allmählich mit instinktiver Behutsamkeit voran, testen Urgroßmutters Reaktion, die aber so tut, als würde sie nichts begreifen. Sie kommt ihnen kein Stückchen entgegen, sie wartet ab, bis zur rechten Zeit das rechte Wort fällt und sich die Schleusen öffnen. Doch, mit einem kleinen Wörtchen hilft sie schon nach: »Ach?«, sagt sie ahnungslos, als jemand womöglich andeutet:
»Na, dein Mann lässt ja wohl auch nichts anbrennen.« »Ach?«
Und dann rollt eine Geschichte nach der anderen vom Stapel.
Alles, von komischen Aufzählungen winziger Details bis zu ausufernden Berichten über abgrundtiefe Sünden und gravierende Fehltritte; Letztere immer in einer haarfein ausbalancierten Mischung aus Offenheit und andeutendem Schweigen. Eigentlich kommt weniges wirklich überraschend. Das eine oder andere hatte sie schon von ihrer Freundin Gu cfrün gehört, anderes hatte sie sich gedacht, und doch wirkt es ganz anders, nachdem es einmal ausgesprochen ist. Manchmal geht Urgroßmutter von der Arbeit nach Hause und fühlt in ihrem einen Bein Hass und in dem anderen etwas ganz anderes, und dann weiß sie
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