Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)
nicht, mit welchem Bein sie auftreten soll.
Eines Tages begegnet sie einer jungen, rothaarigen Frau. Die Frau kommt ihr mit forschen Schritten entgegen, und Urgroßmutter muss zur Seite ausweichen, damit sie nicht zusammenstoßen. Mit wütendem Gesichtsausdruck starrt die Frau vor sich hin, geht schnell an ihr vorbei und ist im Nu um die nächste Hausecke verschwunden. Urgroßmutter sieht ihr verblüfft nach und geht dann nach Hause. Als sie am Abend aus dem Fenster blickt, meint sie in einer Gasse zwischen den Häusern gegenüber eine Bewegung wahrzunehmen. An den folgenden drei Tagen begegnet sie auf dem Heimweg jedes Mal derselben Frau, und an jedem Abend regt sich etwas zwischen den Häusern, als würde da jemand stehen und sie beobachten. Am Abend des dritten
Tags denkt Urgroßmutter an den Klatsch und die Geschichten aus der Nähstube, sie lauscht auf Urgroßvaters tiefe Atemzüge neben sich im Bett.
Und ist schon auf der Straße.
Erst geht sie, dann läuft sie zu der Gasse zwischen den Häusern hinüber. Die Frau ergreift die Flucht, nein, sie stürzt kopflos in einen halbdunklen Hinterhof, Urgroßmutter hinterdrein, ohne nachzudenken und ohne überhaupt zu wissen, was sie von der anderen will. Als diese plötzlich stehen bleibt und sich umdreht, wird Urgroßmutter unsicher und bleibt ebenfalls stehen. Die beiden schauen sich in die Augen. Wütend. Doch als die Rothaarige beiseite treten will, packt Urgroßmutter sie unwillkürlich an der Schulter. Die Frau versucht sich loszureißen, zischt etwas, schlägt nach Urgroßmutter und zerreißt sich dabei ihr Kleid; eine Brust wird sichtbar. Urgroßmutter taumelt zurück, als hätte sie den Schlag abbekommen. Da stehen die beiden im Abenddämmer. Die andere Frau hebt einen Arm, eine Bewegung, und die zweite Brust ist ebenfalls freigelegt. Ihr Gesicht drückt ebenso Furcht wie Herausforderung aus. Junge Brüste sind es, weiß, üppig vor Jugendlichkeit, und sie beben ein ganz klein wenig, kaum merklich. Das rote Haar fließt über die nackten Schultern. Beide Frauen sind etwa gleich groß.
Am nächsten Tag, nein, es geht bereits auf den Abend zu. Urgroßvater hat die Kinder mit einer Gutenachtgeschichte zum Einschlafen gebracht, legt eine Patience und beugt sich gerade über die Karten, als Urgroßmutter ihn bei den Haaren packt, seinen Kopf nach oben reißt, sich über ihn beugt und ihm in die Unterlippe beißt. So fest, dass es blutet. Dabei greift sie mit der anderen Hand zu und öffnet ihm die Hose. »Die Kinder«, keucht er noch unter ihren Zähnen.
Hinterher liegen sie auf dem Rücken, hören auf die Schlafgeräusche der Kinder und wie der Sturm in ihrem Blut abklingt. Sie rauchen eine Zigarre zusammen. Dann sagt Urgroßmutter: »Sie ist hübsch, deine rothaarige Freundin.« Urgroßvater gefriert auf der Stelle, er konzentriert sich ganz auf den Rauch, der von der Zigarre emporkräuselt. Oh, wäre ich nur dieser Rauch, denkt er traurig.
»Ihr Kleid ist zerrissen. Kein großer Schaden, es war ein abgetragener Fummel und hat nicht die Welt gekostet. Billiger Stoff.«
Urgroßvater saugt an der Zigarre, bläst langsam den Rauch aus.
»Ich habe sie berührt, ihre Brüste, meine ich. Sie sind prall vor Leben, groß und stramm. Die Brustwarzen stellen sich bei der kleinsten Berührung auf. Du musst doch ganz wild auf sie sein.«
Urgroßvater hat sich auf die Bettkante gesetzt und sieht seine Frau ungläubig an. »Was, was, was?«, sagt er heiser und kennt keine anderen Wörter mehr. Urgroßmutter nimmt ihm die Zigarre aus der Hand, zieht daran, pustet aus; dann lächelt sie, doch es ist kein angenehmes Lächeln. »Sag mir, mein Liebster, und du hast ja viel Erfahrung in solchen Dingen, sind die Lippen aller Frauen weich oder sind die ihren etwas Besonderes? Was ist zum Beispiel mit denen hier?«, fragt sie und streicht mit dem Zeigefinger über ihre eigenen Lippen. Zorn, kochende Wut steigt in Urgroßvater hoch, fegt das pechschwarze Ungeziefer von schlechtem Gewissen, Furcht und Scham hinweg.
»Was für kranke Gedanken sind nur über dich gekommen, Weib?! Bist du vollkommen übergeschnappt?« Urgroßmutter lächelt nicht mehr; sie raucht und sieht ihren Mann an, sein grau werdendes Haar, die hohe Stirn, die grauen Augen, den sensiblen Mund. Ein Leben ohne Liebe, denkt sie, das ist schlimmer als der Tod. Viel, viel schlimmer.
»Es wäre schön, solche Brüste zu haben wie sie«, sagt Urgroßmutter. »Sie sind viel größer, als meine seinerzeit waren,
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