Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)
vergehen, das Grün wird intensiver, der Schnee schmilzt in den Bergen, violett, braun, grau, gelb und schwarz ragen sie in einen blauen Himmel; nur der Gletscherschmilzt nicht, er steht da als Maßstab für die Lebensspanne des Menschen. Zuweilen ist er so blendend weiß, dass selbst die sommerliche Helle um ihn herum gedämpft wirkt. Er kann aber auch gräulich wirken, an einzelnen Tagen sogar düster, und dann ist es, als läge ein Hauch von Weltuntergang in der Luft. Der Gletscher zeigt Gottes Laune an, steht irgendwo, wahrscheinlich in einem Buch, aus dem Urgroßvater in der Stube vorgelesen hat, einer geräumigen Stube. Sie besitzen einen Bücherschrank mit annähernd hundert Büchern. Urgroßmutter liest beinahe täglich in Victoria von Knut Hamsun und in den beiden Gedichtbänden einer Olöf von Hladir, die werden gar nicht erst ins Regal zurückgestellt.
Die Sache mit dem schwarzen Pferd gefällt ihr gar nicht, und die Abmachung mit dem Kapitän erst recht nicht. »Du weißt ja nicht, was du tust.« Er aber winkt ab. Im ersten Jahr in der Gegend müsse er seinen Umgang mit den Leuten einschränken und wolle so wenig wie möglich unterwegs sein, das sei sehr wichtig. »Außerdem nimmt der Mann so gut wie nichts dafür«, sagt er beruhigend. »Ich kann mit solchen Typen umgehen!« Aber das beruhigt sie keineswegs, nicht im mindesten. Er dagegen schweigt über das Harmonium, traut sich nicht, ihr von der Bestellung zu erzählen, geschweige denn von den Schulden.
Swisch, swisch, Urgroßvater schwingt die Sense. Er ist sein ganzes Leben Bauer gewesen. Swisch, swisch, er legt sich die Sense über die Schulter und guckt begeistert auf die Schwielen an seinen Händen, dann schüttelt er den linken Arm, den er sich vor langer Zeit doppelt gebrochen hat und der manchmal steif wird. Urgroßmutter recht das Heu zusammen und bastelt zwei kleine Harken für Großvater und die kleine Tochter, Großvater ist jetzt sechs, da besteht noch kaum ein Unterschied zwischen einer Bülte und einem Berg. Dann kommt das Motorboot mit Lebensmitteln, einer Kommode, zwei Sesseln zum Nachdenken und einem weißen Harmonium. Urgroßmutter blickt ihren Mann an, der dreimal »Sieh mal« sagt und dann mit ausholenden Gebärden von der Musik in den Bergen schwadroniert, von der älteren Tochter und ihren schlanken, langen Fingern. »Ich dachte, ein Harmonium würde ihr helfen, sich mit der Gegend hier anzufreunden.« Urgroßmutter presst die Lippen zusammen, sieht dann einen roten Schopf und wendet sich ab. Urgroßvater ist mit sich zufrieden. Gut, dass ihm das mit der Tochter eingefallen ist. Ich bin doch einfühlsam, denkt er. Die Seeleute packen mit an, die neuen Möbel ins Haus zu tragen, das Harmonium ist höllisch schwer, sie machen die Oberkörper frei. »Das gefällt mir«, sagt Urgroßvater. »Pass auf, dass dir nicht kalt wird!«, sagt Urgroßmutter zu dem Kapitän und legt ihre Hand auf seine Schulter, lässt sie wie unabsichtlich dort liegen. Er ist nass vor Schweiß.
Sechzig Kilometer Berge
Es ist ein Spaziergang von einer guten halben Stunde bis zum Fuß der Berge. Die Urgroßmutter geht manchmal dorthin. Von dort sieht man den nächsten Hof. Doch sie kann dem Nachbarn nicht verzeihen, dass er versucht hat, ihnen überalterte Schafe anzudrehen. »Das war niederträchtig«, sagt sie. »Solche Menschen haben Schmutz in der Seele.« Nein, Urgroßmutter legt nicht den ganzen Weg zurück, um Leben und Bewegung zu sehen, sie tut es, um an die Berge zu kommen. Sie erklettert den Steilhang und macht erst da Halt, wo der Berg die Vegetationsdecke abschüttelt und ein wuchtiger Felsblock unter düsteren Brauen aufs Meer hinaus starrt. Dort legt sie die Handflächen an die Bergwand. Es liegen noch sechzig Kilometer Berg zwischen ihnen und dem Hof, von dem sie stammt, auf dem sie ebenso geboren wurde wie ihr Vater und ihr Großvater und auf dem sie aufwuchs und lebte, bis sie vierzehn Jahre alt war und ihr Vater betrunken vom Pferd fiel, mit dem Kopf auf einen
Stein schlug und starb. Sie legt die Handflächen an die Bergwand, und es sind sechzig Kilometer Berge bis zu dem Ort, dem einzigen auf der Welt, dem das Wort Heimat zukommt. Sie liegt unterhalb dieses Felsens und versucht, einzuschlafen, presst ein Ohr an das Geröll und hört einen dunklen Basston, so tief, dass die Augenlider vibrieren wie Schmetterlingsflügel.
Seefahrt am Gletscher
Urgroßvater ist begeistert von der Einsamkeit. Das kann man von der älteren Tochter nicht
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