Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)
unbewussten Spannung gehalten. Sie trägt das kastanienbraune Haar lang, ihre hohe Stirn ist so hell, dass sie manchmal zu leuchten scheint. Unter dieser Stirn sitzen dunkle Augen, die noch eine Spur dunkler werden können. Die Matrosen könnten das Boot in einer halben Stunde entladen, aber jetzt lassen sie es gemütlich angehen. Das Wetter ist ruhig, ein kühlender Luftzug weht, es ist schön, auf der Welt zu sein. Es sind alles junge Männer zwischen achtzehn und dreißig, nur der Kapitän geht auf die vierzig zu. Er tritt jetzt zu der Frau und will ihr etwas über das Wetter in dieser Gegend erzählen, auf welche Windrichtungen man Acht geben muss, was man an den Wolken ablesen kann, dass man mit so einem Kahn hier vielleicht nicht unbedingt viel Fisch fängt, aber es gebe schon einiges an Fisch in diesem Abschnitt, etwa vor dieser kleinen Landzunge, die ein paar Meter ins Meer vorspringt, und er will darauf zeigen. Da aber fällt sein Blick auf ihre Hände. Sie sind vielleicht nicht mehr ganz so weiß und rein wie vor zehn Jahren – sie haben in der Zwischenzeit einiges durchgemacht -, aber trotzdem fragt er wie ein Mondkalb: »Woher hast du solche Hände?«, und greift nach ihnen wie ein Ertrinkender. Sie zieht sie zurück, nach einem kurzen Zögern.
Er ist etwa ebenso groß wie Urgroßvater, aber kräftiger und mit einem markanten Gesicht, rotem, gescheiteltem Haar und klaren, blauen Augen, die bei einem bestimmten Licht etwas Träumerisches auf ihrem Grund sehen lassen. Er starrt diese ihm unbekannte Frau an. Ganz offensichtlich ist er rettungslos verloren und fängt an zu reden, erzählt ihr seine Lebensgeschichte. Es ist nichts Weltbewegendes, ein bisschen von allem darin, Leben und Tod, Glück und Trauer, das Meer, viele Fische und schließlich der Gletscher. Er sieht die Frau an, und jetzt liegt etwas ungeheuer Beschwörendes in diesem Blick.
»Der Gletscher«, sagt er mit Ehrfurcht in der Stimme, »wacht ständig über mich, er begleitet mich weit aufs offene Meer hinaus. Alle anderen Berge sind längst versunken, alles Land; doch er erhebt sich aus der See wie das Schicksal selbst.« »Alle Achtung«, sagt Urgroßmutter, »wenn du mal kein Dichter bist! Aber vergiss nicht, dass du bloß von einem alten Berg sprichst, der mit furchtbar viel altem Schnee bepackt ist, weshalb wir von einem Gletscher reden.«
Da sagt der Kapitän: »Deine Stirn.«
»Wie bitte?«
»Sie erinnert an einen Gletscher.« Er starrt auf ihre Stirn. Urgroßmutter lacht. »Und ich habe immer geglaubt, das kalte Blut der Fische würde euch Seeleute zu Realisten machen.«
»Er muss ein besonderer Mensch sein.«
»Wer?«
»Dein Mann.«
Sie lächelt vor sich hin. Besonders? »Manchmal glaube ich wirklich, dass er unvergleichlich ist – obwohl er es kaum verdient hat«, sagt sie.
»Er hat nicht seinesgleichen«, konstatiert der Seemann, nicht aus Höflichkeit, sondern aus Überzeugung. »Vielleicht sind es seine Fehler, die ihn großartig machen«, sagt Urgroßmutter.
»Ich bin nicht verheiratet. Ich war es einmal, vor langer Zeit, aber meine Frau ist gestorben.«
»Ich weiß, du hast es vorhin schon erwähnt.«
»Aber ich habe nicht gesagt, dass mit ihrem Tod etwas verloren gegangen ist, die Welt oder das Leben, und seitdem habe ich mich mit nichts mehr verbunden gefühlt, außer mit der See und dem Gletscher.«
»Deine Männer respektieren dich offenbar«, sagt Urgroßmutter und blickt zu den fünf Matrosen hinüber. Zwei haben einen Ringkampf begonnen, die anderen schauen gemeinsam mit den Kindern zu. »Das würden sie kaum tun, wenn du mit ihnen so reden würdest. Nicht solche Kerle.« »Auf See kommen mir wenige gleich«, antwortet er, und es liegt keine Spur von Übertreibung in seiner Stimme, kein Anflug von Überheblichkeit auf seinem Gesicht. Urgroßmutter blickt ihn voll an, dreht ihm ihre helle Stirn zu und sagt: »Ich werde vielleicht noch an dich denken.«
Er starrt sie an, ein kühler Frühlingswind weht, keine Wolke am Himmel. Er zieht sich aus. In einer einzigen, flüssigen Bewegung streift er sich Pullover, Pulli und Unterhemd über den Kopf und lässt sie achtlos in den Sand fallen. Er läuft zum Boot, packt den Schrank, der noch an Land getragen werden muss, eigentlich eine Arbeit für zwei Männer, und trägt ihn bis zu ihr hinauf.
Sie sieht ihn an.
»Zieh dir etwas über«, sagt sie schließlich. »Es ist kühl. Und dann mach, dass du wegkommst, und sieh zu, dass dich die See nicht
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