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Das Knochenhaus

Das Knochenhaus

Titel: Das Knochenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Lawhead
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messerscharfen Erkenntnis, dass er an einem Ort eingeschlafen war, wo Wilhelmina ihn nicht vermuten und daher auch nicht suchen würde. Angetrieben von einem verzweifelten Gefühl von Dringlichkeit, stand er schnell auf und machte sich hastig auf den Weg zurück zu der Stelle, wo er in dieser Welt gelandet war. Während er lief und dem sorgenschweren Gedanken nachhing, er würde Wilhelmina verpassen, bemerkte er zunächst nicht, dass der Geruch, dem er oben in den bewaldeten Hügeln begegnet war, sich erneut eingestellt hatte. Als er ihn schließlich wahrnahm, blieb er augenblicklich stehen, schaute sich um und schnupperte in der Luft. Es war unverwechselbar und stärker: ein schwerer, erdhafter Gestank, der zudem stark an Fell und Schweiß, Blut und Moschus erinnerte – die Ausdünstung einer Totenbahre und Hundehütte, von Schweine-und Pferdestall, von Höhlen und Kaninchenbau. Trotz dieser Assoziationen war der Geruch nicht völlig unangenehm. Tatsächlich war damit eine Wildheit verbunden, die ihn seltsam berührte. Wäre er ein Jagdhund, dann – so stellte sich Kit vor – würde seine Nase beben und das Nackenhaar sich sträuben.
    Aus heiterem Himmel kam ihm ein Gedanke: Was auch immer er da roch, würde vielleicht auch ihn riechen können.
    Kit ging weiter, diesmal noch schneller als zuvor, und blickte oft hinter sich. Obwohl er nichts sah, wurde er sich immer sicherer, dass irgendetwas hinter ihm war.
    Nur die Ruhe! Du lässt es gerade zu, dass deine Fantasie Amok läuft.
    Er zwang sich, innezuhalten und tief einzuatmen.
    So, schon besser.
    Der Gedanke ging ihm immer noch durch den Kopf, als er plötzlich das Knistern von trockenen Blättern hörte. Rasch blickte er hinter sich und erspähte eine graue Gestalt, die in den dunklen Schatten des Grüns entlang der steinernen Fassade der Schlucht verschwand – das bloße Zucken einer Bewegung, und dann war es fort.
    So lautlos, so schnell. Nach einem Moment war er sich noch nicht einmal mehr sicher, ob er es wirklich gesehen hatte. Erneut versuchte er, es einfach mit einem Achselzucken abzutun, marschierte weiter und zwang sich dazu, leiser voranzugehen. Trotzdem konnte er nicht einfach das Gefühl abschütteln, dass man ihn verfolgte.
    Alle paar Schritte – in unregelmäßigen Abständen – warf er einen Blick zurück, um zu schauen, ob er den Schatten erneut zu Gesicht bekam. Er sah nichts, doch die Stille in der Schlucht begann einen unheimlichen Druck auf seine Ruhe auszuüben – als ob das gesamte Tal die Luft anhielt in Erwartung eines furchtbaren Geschehnisses.
    Okay, das ist jetzt wirklich albern. Da ist absolut nichts.
    Und dann, gerade er als seinen Marsch fortsetzte, hörte er das unverkennbare Knacken eines trockenen Astes unter einem schweren Fuß. Kit wirbelte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, und dachte, dass er ein weiteres Mal das Zittern einer Bewegung erblickte – einen Schatten, der im Schatten verschwand. Schnell und lautlos, doch ... massiv. Und diesmal war sich Kit sicher, dass er etwas gesehen hatte.
    Die Gewissheit erzeugte eine kranke Angst, die sich durch seine Eingeweide schlängelte: Ihm wurde heimlich nachgestellt. Vor seinem inneren Auge entstand, wie nach einer Explosion, ein entsetzliches Bild von ihm selbst: Er sah sich selbst, wie er erschöpft durch die Wildnis rannte und von einem Rudel heulender Wölfe gejagt wurde, bis er stürzte und in blutige Stücke zerrissen wurde.
    Bevor seine in Fieber versetzte Einbildungskraft ein weiteres grauenhaftes Bild ausspeien konnte, schaltete Kit sie aus, jagte hinüber zum steinernen Bereich entlang des Flusses und rannte dort weiter. Obwohl hier der Untergrund holpriger war, entschied sich Kit, lieber unter freiem Himmel zu bleiben, wo er um sich herum alles sehen konnte, als weiterhin am Waldrand entlangzulaufen: Dort hatte das Wesen, das ihm nachstellte, den Vorteil, sich in den Schatten und hinter Holz verstecken zu können. Diese Entscheidung gefiel ihm, bis er auf der anderen Seite des Flusses schräg zwischen den Bäumen eine weitere schemenhafte Gestalt erblickte, die mit ihm Schritt hielt.
    Kit rannte nun mit ganzer Kraft und kümmerte sich wenig darum, dass er für die Geschöpfe, die ihm nachstellten, leicht sichtbar war. Seine Füße flogen geradezu über den unebenen Untergrund, der aus von Wasser geglätteten Steinen unterschiedlichster Größe bestand. In seiner Hast verhielt er sich unbedacht und war unachtsam gegenüber allem; er wurde

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