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Das Knochenhaus

Das Knochenhaus

Titel: Das Knochenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Lawhead
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gesehen hatte. Das Gesicht, das auf ihn herabspähte, gehörte zu einem dunkelhäutigen, zerklüfteten, quadratischen Kopf, den ein dichter Haarpelz bedeckte, der so dicht und verfilzt war, dass er wie das Fell eines Yaks aussah. Und die Physiognomie war die einer ungeschickt ausgeführten Karikatur. Sogar wenn man mit einer Axt die gleichen Gesichtszüge aus einem Holzstück schnitzen würde, wäre das Ergebnis nahezu identisch – mit Ausnahme der Augen. Und es waren die Augen in diesem Gesicht, die Kit verwunderten und ihn bannten: große, dunkle Augen, die so schnell, intelligent und ausdrucksvoll blickten, dass sie nur einer Kreatur gehören konnten, die zumindest ein elementares Bewusstsein seiner selbst besaß.
    Die Tatsache, dass die Kreatur über den Anblick von Kit genauso überrascht zu sein schien wie der über den dieses Geschöpfes, vervollständigte den Zirkel der Verwunderung. Er lag da und starrte nach oben auf das Gesicht mit den groben Zügen. Eine kindliche Faszination erfasste ihn, und das Gefühl der Verwunderung war so überwältigend, dass es alle Angst aus ihm heraustrieb. Kit vergaß einfach, sich zu fürchten.

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NEUNUNDZWANZIGSTES KAPITEL

    D ie Zeit verlangsamte sich zu einem Rinnsal. Während er immer noch auf dem Boden der Grube lag, kämpfte sich Kit zu einer vernünftigeren Geistesverfassung zurück und erkannte eines: Er war in großen Schwierigkeiten. Um Himmels willen, er war in einer Fallgrube – einer Todesfalle! Er war das Opfer für das Schlachtmesser, und es gab nichts, was er dagegen unternehmen konnte. Dennoch fühlte er sich überhaupt nicht verzweifelt. Jeder Instinkt in ihm polterte geräuschvoll und bestand darauf, dass er starr vor Entsetzen sein sollte. Stattdessen empfand er mehr als alles andere große Erleichterung, wenn man einmal von der starken ursprünglichen Verwunderung absah.
    Über ihm gab es eine Bewegung, und das Gesicht verschwand. An seiner Stelle tauchte ein stabiles, langes Stück Holz auf, das geglättet und abgerundet war; zudem glänzte es, offenbar weil man es häufig benutzt hatte. Vielleicht der Schaft eines Speeres? Das Arbeitsgerät senkte sich nach unten und schwebte dann über ihm. Als Kit eine Bewegung machte, um es zu berühren, stupste ihn das Geschöpf mit dem Ende des langen Holzstücks, zunächst gegen die Schulter und dann in den Bauch. Kit drückte die abgerundete Holzstange von sich fort; doch er wurde weiterhin damit gestoßen – sogar mit noch größerem Nachdruck –, bis ihm endlich klar wurde, dass die Kreatur oben ihn dazu bringen wollte, die Stange zu ergreifen. Zögernd umfasste er das glatte, abgerundete Ende des Astes – und mit einer einzigen, mühelos durchgeführten, ruckartigen Bewegung wurde er so weit hochgezogen, dass er stolpernd auf seine Füße zu stehen kam.
    Der Grubenrand war immer noch etwa einen knappen Meter von ihm entfernt. Doch erneut wurde Kit die Stange angeboten. Mit beiden Händen griff er fest zu und wurde mit großer Kraft aus der Grube herausgezogen. Im nächsten Moment stand er vor Geschöpfen, deren Existenz der Stoff von Mythen und Gegenstand staubiger Museumsdioramen war. Sie waren zu zweit: große, zottelige und offenkundig extrem wissbegierige Geschöpfe, die ihn aufmerksam betrachteten; die blanke Neugier brannte in ihren dunklen Augen. Eines war größer als das andere und auch älter. Beide waren in Felle gekleidet, die von Schnüren und Bändern aus geflochtenen Stricken und getrocknetem Darm zusammengehalten wurden. Ihre Hautfarbe war von einem gesunden Nussbraun – wohl eine Folge von Sonne und Wetter –, das Haar dunkel und lang, doch an den Spitzen sonnengebleicht. Während das ältere Geschöpf einen starken Bart trug, fehlte dem jüngeren jegliche Gesichtsbehaarung. Beide liefen barfuß und hatten breite, auseinandergespreizte Zehen und dicke, schwielige Sohlen; und beide hielten nahezu identische Speere mit kräftigen Schäften und kurzen, aus Feuerstein zurechtgeschlagenen Klingen in Händen.
    Obwohl sie nicht größer als Kit waren, erweckten sie in jeder Hinsicht den Eindruck, Giganten zu sein – vielleicht aufgrund ihrer extrem robusten Ausstrahlung und ihrer starken Muskulatur. Es waren prachtvolle Exemplare ihrer Art: mit breiten Schultern und mächtiger Brust, mit einem großen viereckigen Kopf, der auf einem kurzen Hals saß, und riesigen, muskulösen Unterarmen, Unter-und Oberschenkeln. Ihre Körpermitte war sehr dick, und sie besaßen nur wenig Taille. Daher

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