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Das Knochenhaus

Das Knochenhaus

Titel: Das Knochenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Lawhead
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Trage aus Birkenpfählen und Häuten schleppten. Dieser fünfte war der älteste Urmensch, den Kit bisher gesehen hatte. Von Kinn bis Fuß eingewickelt in Felle und Pelze, sah er mit seinen dünnen grauen Haaren, dem langen weißen Bart und seinem uralten, runzeligen Gesicht regelrecht wie mumifiziert aus. Die Träger senkten die Bahre behutsam zu Boden, und mehrere der in der Nähe stehenden Clanmitglieder halfen dem Alten auf die Beine. Sobald er aufrecht stand, scheuchte er seine Helfer mit einer Handbewegung zur Seite und schlurfte mit unsicheren Schritten voran, um Kit kennenzulernen.
    Während er sich ihm näherte, spürte Kit ein prickelndes Gefühl an seiner Schädelbasis. Die Zeit schien sich zu verlangsamen – ihr normaler Fluss schrumpfte zu einem kleinen Rinnsal zusammen, das sich um ihn herum konzentrierte. Darüber hinaus verspürte Kit eine sehr befremdliche und mächtige Empfindung – eine, die er erst ein einziges Mal zuvor in seinem Leben gefühlt hatte. Als Kind hatte man ihn zu einem Baum geführt, der als der älteste in ganz England galt: eine gewaltige, knorrige Eiche mit einem Gewirr von Wurzeln, die Marton Oak genannt wurde und fast tausenddreihundert Jahre auf Erden überlebt hatte. Kit erinnerte sich, wie er im Zwielicht unter dem Baumkronendach aus riesigen, sich ausbreitenden Ästen stand, mitten zwischen Wurzeln, die so groß wie er selbst waren – und an das Empfinden einer fast übernatürlichen Macht, die ihm das Wissen verlieh, in der Gegenwart eines Lebewesens von solcher Ruhe, Sanftmut und Geistesstrenge zu sein, dass in ihm ein völlig anderer Existenzplan wohnte und dass er daneben so klein und imaginär wie ein Erdklumpen war.
    In Anwesenheit dieses Alten empfand Kit nun auf die gleiche Weise: zu einem Zwerg geschrumpft durch einen Geist, der nicht nur viel älter und weiser war, sonder auch viel größer und weitaus mächtiger als irgendein anderer, den er jemals getroffen hatte. Und wie die uralte Eiche wirkte der alte Mann unaussprechlich majestätisch: ein König seiner Art. Ein weiteres Mal war Kit jener kleine Junge, der im Schatten eines weitaus höhergestellten Wesens stand und bis in sein Mark und sein Herz hinein wusste, dass er absolut unbedeutend war.
    Dennoch empfand er keine Furcht. Das alte Wesen vor ihm schien eine grenzenlose und friedliche Anerkennung auszustrahlen. Kit verstand, dass er trotz des gähnenden Abgrundes zwischen ihnen nichts zu befürchten hatte.
    Der Uralte untersuchte ihn langsam von Kopf bis Fuß. Kit fiel auf, dass eines der Augen des Alten leuchtete und eine geradezu stechende Schärfe besaß, wohingegen das andere getrübt und fast dunkel war. Als er seine Untersuchung abgeschlossen hatte, hob der greise Stammesführer sein Haupt und fixierte Kit mit einem glühenden, entschlossenen Blick. Kit wurde sich bewusst, dass dies ein Kommunikationsversuch war; er konnte es als eine reale Kraft von beträchtlicher Intensität fühlen. Verzaubert von der Macht und Direktheit dieser Annäherung, öffnete er sich ihr einfach.
    Das Ergebnis war überwältigend.
    Was für eine Art von Geschöpf bist du?
    Die Frage traf ihn wie ein Faustschlag. Instinktiv trat Kit rasch einen Schritt zurück, um sein Gleichgewicht wiederzuerlangen. Er brauchte eine Sekunde, um zu realisieren, dass die Frage nicht laut ausgesprochen worden war. Außerdem waren dafür überhaupt keine Wörter benutzt worden.
    »Ich bin ein Mensch«, platzte es aus Kit heraus, obgleich er nur allzu gut wusste, dass dies nicht verstanden würde.
    Me-ensch , wiederholte die körperlose Stimme in seinem Kopf.
    Klar wie eine Glocke und deutlich unterschieden von Kits Gedanken – mit eigenständigem Timbre, eigener Beschaffenheit und eigenem Tonfall –, nahm die nicht redende Stimme des Uralten Gestalt an, und eine Befragung von noch nie dagewesener Art nahm ihren Anfang.
    Me-ensch ... Kits Wort für sich selbst wurde dann verbunden mit der Idee des Seins oder des Existierens ... ist ... Dann erhielt Kit ein Gefühl von wachsenden Wesen, von Handeln, Atmen, Änderung ... lebendig ... Danach kam die Vorstellung von Leben, das untrennbar verschlungen war mit etwas Greifbarem, doch Amorphem, mit einem belebenden Feuer, das gegenwärtig, aber innen verborgen war ... lebendige Seele .
    Die Frage, so wie sie in Kits Bewusstsein eintrat, lautete: Bist du, Mensch, eine lebendige Seele?
    »O ja! Ja, wirklich. Ich bin ... Ich habe eine Seele«, versicherte Kit. Er äußerte diese Worte mit seinem

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